Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

Stuttgart


Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt
Die gern von ihren Taten ihren Reden
Die Hörer unterhält und still sich freuend
Das Ende dieser schönen Reise sich geschlossen sieht.

(Goethe)


Wir waren nun also in Stuttgart, in der Kronprinzstr. 22, dem Geburtshause meiner Mutter, in dem lieben alten Hause, von dem uns die „Mama“ schon oft erzählt hatte. Hier war so viel Glück und Leid eingekehrt, hier waren 3 Frauen eingezogen und in jugendlichem Alter hinausgetragen worden, hier waren 28 kleine Kinderfüße treppauf, treppab getrippelt, hier waren große erwachsene Menschen aus aller Welt und der Fremde wieder heimgekehrt ins Vaterhaus! Am 15. Januar 1830 war mein Großvater41 in das Haus eingezogen und hatte am Geburtstage seines Vaters42, Christoph Friedrich Eckhardt43, das Geschäft von Ludwigsburg nach Stuttgart verlegt44.


Christoph Friedrich Eckhardt

Der Gründer der Firma C. F. Eckhardt war müde geworden nach seinem tatkräftigen, wechselvollen Leben und hatte seinem Sohn schon einige Jahre vorher das Geschäft in Ludwigsburg übergeben. Mein Großvater hat das Leben seines Vaters selbst in kurzen Zügen geschildert und Tante Antonie, die spätere Frau des Kulturhistorikers Riehl hat dann das Leben ihres Vaters aufgeschrieben45. Die Atmosphäre und der Geist in der Lebensführung dieser Vorfahren ist so bezeichnend und charakteristisch für das Wesen meiner Mutter und ich finde in meiner Lebenslinie und Lebenshaltung so viel überkommenes Eckhardtsches Erbgut, daß ich dankbar das Leben dieser längst Verblichenen neu in mir aufleben lassen und vor dem Vergessen retten möchte. Vielleicht gibt das Vorbild seiner Vorfahren auch einem Enkel Halt und Linie und Sporn46.


Die Firma C. F. Eckhardt
Von Gottlob Eckhardt47


Unser Vater Gottlob Friedrich Eckhardt
geb. d. 29. April 1800 gest. d. 26. März 1876

von Antonie von Riehl geb. Eckhardt48


S t u t t g a r t: Schmerzerfüllt, doch vertrauend der Leistung dessen, der die Liebe selbst ist, gebe ich Verwandten und Freunden von dem am 21. Oktober, Abends 5 Uhr, im 38. Lebensjahre und in Folge einer Herzentzündung plötzlich eingetretenen Tode meiner geliebten Gattin, Marie, geb. Stein, Kunde. Zum dritten Mal geht mein Haus der mütterlichen Sorge, der mütterlichen Liebe verlustig, wenn gleich derselben von 15 Kindern die größere Zahl noch so sehr bedürftig gewesen wäre; das Auge aber, daß nimmer sich schließt, wird sie, wie ich hoffe, überwachen.

Gottlob Eckhardt.

Firma C. F. Eckhardt.

Meine Großmutter war die dritte Frau meines Großvaters49. Sie war aus Dresden nach Stuttgart gekommen zum Besuch zu einem Herrn Brommey, einem Bruder des berühmten Admiral Brommy50, unter dem die erste deutsche Flotte unter den Hammer kam. Das Ölbild der Frau Br., einer feinen fast aetherischen Frau, hing im Zimmer meiner Mutter bis zu ihrem Tode51. Wir liebten es und haben uns fast darum gestritten. Sie ist jung gestorben und einiges aus ihrem Hausrat ist in den Besitz meiner Mutter übergegangen. So war der Nähtisch – er ist jetzt bei Elisabeth Jankowsky52, Pyrmont – Brommysches Eigentum und eine kleine schwarze Kommode, die in unserm Haus nur unter der warmen Bezeichnung „das Br.sche Kommedle“ die Erinnerung an jene zarte liebe Frau wachhielt. Das Komedle hat mir viele Jahre gedient, kam dann in den Besitz meiner jüngsten Tochter53 und ist nun mit so vielem andern Erinnerungsgut ein Opfer des Krieges geworden, denn Ostpreußen und damit Allenstein sind ein Tummelplatz der Russen. Bei ihrem Besuch hat Marie Stein54 den Witwer mit den 10 Kindern kennen gelernt und hat kühn die schwere Aufgabe übernommen die Führung des verwaisten Hauses zu übernehmen, doppelt schwer deshalb, weil ihre Eltern sich dem Paar mit aller Energie widersetzten. Es existiert noch ein Brief55 des Finanzrats Stein, Dresden, wo er schreibt, die Tochter habe ihn nur einmal betrübt, als sie weit von der Heimat fortging (von Dresden nach Stuttgart !) und die schwere Aufgabe übernahm. Meine Mutter hat mir zwei Bilder ihrer Mutter hinterlassen: eine ganz feine Aquarellzeichnung, die sie als Braut zeigt 1843, und eine Kohlezeichnung der Frau. (Anmerkung beide in einem Koffer in Hundsdorf56). Beide Bilder sind durch ihre Schönheit und ihren Liebreiz jedem Besucher meines Hauses aufgefallen. Als ihr zukünftiger Mann ihr sagte, daß er eine Perücke trage, sagte sie prompt: „Ich lieb den Kopf und nicht den Schopf.“ Meine Mutter, die älteste von 5 Geschwistern, war 8 Jahre als sie ihre Mutter verlor, sie besann sich daher kaum auf sie, nur die alte Dienerin, die „Babbeth“ hat die Erinnerung wachgehalten. Sie erzählte wie zärtlich sie in ihrem sächsisch sagte: „Komm Herzenskind, ich putz dir deine Nase.“

Von der alten Babbeth ist eine launige Geschichte bei uns Familiengut geworden. Sie war alte Jungfer geblieben, denn ihr Schatz hatte sie sitzen gelassen. Eines Abends kam sie mit einer dick geschwollenen Backe heim; und sie berichtete, sie habe ein Liebespaar auf einer Bank sitzen sehen und der Braut ins Ohr gesagt: „Glaub´s net, glaub´s net, s´ischt elles verloge“, eine derbe Maulschelle des Bewerbers war die Strafe. Bald nach der Mutter Tod starb die kleine Selinde; mein Großvater beerdigte selbst das Kind. Am Schluß der gedruckten Trauerrede steht das Gedicht für Selinde.

Ein Lockenwickel, ein Visitenkartenkästchen, eine Karte Marie Stein und ein Gesangbuch sind das einzige war von ihr auf uns gekommen ist57.

Als wir in Stuttgart waren, bewohnte das erste Stockwerk die Familie Conradt, die Amalie Eckhardt eine Tochter aus zweiter Ehe hatte einen Conradt geheiratet58. Im 2ten wohnte Tante Antonie – ihre wundervollen Glasschränke haben mir damals schon in die Augen gestochen – im 3ten Stock wohnte Tante Elise59, die Tochter aus erster Ehe, die Güte selber.

Stuttgart, Kronprinzenstr. 22
(Bild von dem Wiener Grafiker Prof. Ferdinand Eckhardt, dem Enkel Gottlob Friedrich Eckhardts.)

Es war also ein Haus, wie der Kulturhistoriker Riehl es sich wünscht. 2 Ereignisse sind mir in lebendigster Erinnerung. Es war gerade die Feier der silbernen Hochzeit des Königspaares, ganze Straßenzüge waren umgebaut, eine Fülle Menschen aus der Umgebung waren in die Stadt geeilt und so wollten auch wir uns etwas ansehen, besonders den „König“ wollten wir sehen. Eine richtige schwäbische Bauerntochter in ihrer Staatstracht war zu Besuch der Mane (Mädchen von Tante Antonie) gekommen, und sie zog mit uns 3 Kindern los. Musik kam vorbei und vom Taumel gepackt marschierten wir mit. Plötzlich verschwanden Soldaten und Trompeter in einem Kasernenhof und wir standen allein. Wie heimfinden? Das Bauernmädel, 19 Jahre fing an zu weinen, und das machte die beiden Kleinen auch mutlos. Wir hatten nicht bedacht, daß sie noch nie in der Stadt gewesen war. Ich übernahm nun kühn die Führung. Den Turm der Stiftskirche nahm ich zum Führer, aber wie oft mußten wir neue Auswege machen, weil Straßen abgesperrt oder dicht mit Menschen gefüllt waren. Ich hielt im Gedränge immer die Hände vor Elisabeths Brust, weil die Mama uns erzählt hatte, daß der Brustkasten leicht eingedrückt werde. Wir hatten auch das Glück den König und viele hohe Herrschaften zu sehen. Aber daß der König keine Krone trug konnte Elisabeth nicht verschmerzen. Nach vielen Stunden kamen wir müde und fröhlich zu hause an. Da war natürlich große Aufregung und Sorge gewesen. Nach allen Seiten hatten sich die Suchenden verteilt und dann – verfehlt. Die Erregung der Großen untereinander lenkte gottlob die Aufmerksamkeit von uns ab. Wir durften nicht mehr mitgehen, um den König zu sehen; aber wir hatten auch kein Verlangen mehr danach. Unsere Neugier war befriedigt, und ich war stolz auf meine Leistung.

Weniger ruhmvoll ist das zweite Ereignis. Ich war als erste am Kaffeetisch, sah daß die Milchkanne nicht fest auf dem Teebrett stand und schob sie gewaltsam weiter. Das Teebrett aber war zu klein für beide Kannen, die Kaffeekanne mußte weichen und kippte. Nun machte ich es leider nicht wie der kleine „Gottlob“, sondern floh eiligst, im Glauben dadurch den überschwemmten Kaffeetisch und meine Tat verbergen zu können. Aber ich mußte bald meine Sünden eingestehen. – Deutlich sehe ich uns, ehe wir zum Bobser gingen, auch an der Küchentüre stehen und fragen, ob die Berge so steil zu erklettern seien. Ein Vergleich mit den Bergen innerhalb Königbergs hätte uns die Berge veranschaulicht, aber sicher hätte uns das nicht imponiert. Hinten auf dem Dach der „Altane“ war unser Hauptspielplatz. Da konnten wir nicht weglaufen, nicht überfahren werden. Ich frage mich immer, warum man in Großstädten solche „Altane“ nicht häufiger einbaut. Das Kreiseln habe ich in Stuttgart das erste Mal gesehen. Damit Mittags Ruhe war, hatte Tante Antonie das Spiel „Schläferles“ eingeführt. Wir bekamen jeder ein Eckchen, in dem wir saßen und still ausharrten bis das Spiel zu Ende war. Die beiden Töchter Malchen und Toni nahmen sich der „Kräbbeles“, wie sie und nannten, sehr lieb an. Mit Toni habe ich mein ganzes Leben zusammengehalten. Sie hatte ein tragisches Schicksal, da sie 1935 ihre einzige Tochter, mit ihrem Mann General Höring und der kleinen 8 jährigen Hanna durch Flugzeugunglück verlor. Für Friedenszeiten unendlich hart; der Krieg hat uns gelehrt mehr zu ertragen. Sie hat ihr Schicksal still ertragen und niemand mit ihrem Leid belästigt. Ich habe sie mir zum Vorbild genommen.

Die religiöse Befruchtung, die schon in Königsberg ihren Anfang genommen hatte, wurde in Stuttgart weiter vertieft. Wir wurden in die Kirche mitgenommen und nahmen regelmäßig am Kindergottesdienst teil in der Gruppe von Tante Antonie; der sehr lebendige und temperamentvolle Unterricht ist mir bis heute in Erinnerung. „Mariele“ tönt es noch in meinen Ohren. Zu hause wurde ich „Mietze“ genannt.

Eines Tages kam eine Depesche, die uns nach Kissingen rief. Erst viel später habe ich erfahren, daß dieser Brief eine Verabredung war, um die Abreise zu begründen.


In Kissingen wohnten wir in der „Ölmühle“60. Ein zusammenhängendes Bild jener Wochen habe ich nicht bewahrt, nur 3 punktuell für sich dastehende Ereignisse. Den Wespenüberfall, den Beginn, besser die Geburt des Geheimnisspiels, die erste Liebe.

Wir waren in dem Kaffeeausflugsort Clausthal und spielten etwas abseits von den Gästen an einem sonnigen Abhang. Plötzlich hörte man im Kaffeegarten großes Geschrei und darauf kamen wir 3 schreiend angestürzt, umgeben von einem großen, dicken Schwarm Wespen. Alles stürzte auf uns zu um uns zu helfen. Ich bewundere noch den Mut, mit dem meine Mutter die Wespen von uns abschlug, dann wurden wir schnell ausgezogen. Die Wespen waren in und unter unsere Kleider gekrochen. Ein reitender Bote wurde nach Kissingen zur Apotheke geschickt, inzwischen gossen die Gäste schnell ihre Wassergläser auf die Erde und wir wurden ganz mit nasser lehmiger Erde belegt, dann angezogen und sollten heimfahren. ¾ des Wegs setzte uns aber der Kutscher heraus und wir mußten noch so voll beklebt und voller Schmerzen ein Stück gehen. Am andern Morgen erkundigten sich die Kurgäste am Brunnen voller Anteilnahme nach uns dreien. Elisabeth hatte 49 Stiche, Tielchen 5, ich 25 Stiche. Wären es Bienen gewesen oder die Hilfe mit der nassen Erde nicht so schnell und gründlich angewandt worden, wäre unsere Jüngste sicher nicht am Leben geblieben. Unser ganzes Leben lang ist der Schreck uns in den Gliedern geblieben, unsere Angst vor Wespen und Bienen ist von vielen verlacht worden, aber wer das nicht durchgemacht hat, wie wir, kann sie nicht begreifen.

Ein zweites für unsere Kindheit folgenschweres Ereignis war der Beginn des Geheimnisspiels. Wir standen im Garten der Ölmühle und wollten etwas spielen. Da sagte Tielchen: „ich bin Kaiser“, darauf Elisabeth; auf einen Stuhl steigend; „ich bin Hoch-Kaiser“; da stieg ich auf einen Tisch und sagte: „ich bin Überhochkaiser“. Diesen hohen Fürstlichkeiten wurden Frauen zugeteilt, deren Namen schlichter klangen und nach denen zuerst das ganze Spiel benannt wurde. Margrete, Gret und Erika. Von dem Tage kannten wir Zank und Streit nicht mehr. Unsere Gestalten stritten sich und belebten dadurch das Spiel. Bald gab es einen Alberto (Elisabeth), König des Königreiches England, einen Carlos von Graetien (Ottilie), einen Pedro von Germanien. Durch Umkehrung der Namen hatten wir einen Thebasile, und Bethsalie, eine Eilito und Ietolot, eine Eiram und Rima; ein dauerndes, aber allmähliches Auswachsen der Familien schuf eine Genealogie ähnlich der Forsyte Saga61. Neu gewonnene Erkenntnisse und Namen wurden dichterisch umgestaltet und verwertet, Schriftsteller gab es auch unter unsern Phantasiegestalten, die Romane, Theaterstücke, Dramen schrieben, Gedichte verfassten, auch Geschichte schrieben. Unter meinen Büchern geisterte noch lange der „Carlos“ von Eiloto (Ottilie) und ein Drama „Taddam“ von Elisabeth. Die beiden schrieben viel und Elisabeth sagte einmal: „Es ist immer ein Heftchen vorrätig zu haben.“ Ich hatte die dichterische Gabe nicht in dem Grade, wie meine Schwestern, und war einmal tief gekränkt als es hieß: „Pedro ist derb und bieder.“ Auch unsere Feste hatten einen eigenen Charakter und ihr besonderes Ceremoniell und dann kam noch eine Geheimschrift hinzu, eigens dazu erfundene Buchstaben, damit die Brüder über die Briefe das Geheimnisspiel, das sie ergründen wollten, nicht lachten. Der Unterricht in dieser Schrift war aber auch in das Ganze eingebaut. Als ich in die Pension kam setzten wir das Spiel noch in einem Briefwechsel unserer Gestalten fort. Meine Schwester Ottilie die noch ihre besonders eigene Phantasiegestalten hatte, hat das Wesen dieses zweiten Lebens in einem Gedicht geschildert, das mir in Erinnerung ist:


Ihr Gestalten, die ihr lebt
leblos um mich her
Die ihr Lieb und Luft mir gebt
wenn das Herz mir schwer.

Könnt ich Euch erlösen
aus des Traumes Bann
Leben euch einflößen
wie´s der Dichter kann.

Doch am liebsten wär ich eines
Glückliche von Euch,
nur ein Kind des heitern Scheines
aus dem Märchenreich.

(Ottilie Lemke)


Die Geburt dieses Geheimnisspiels das über unsere ganze Kindheit Schleier gebreitet und die überhöht hat, fiel also in unsern Kissinger Aufenthalt.

Nicht so bedeutend aber doch schon in die Zukunft weisend war die erste Kinderfreundschaft. Mit uns in der Pension war ein ungefähr 12jähriger Junge aus Breslau. Eigentümlicherweise ist mir der Name entfallen. Wir waren möglichst viel zusammen und sehr traurig, daß wir scheiden mußten. Die beiden jungen Mädchen, Töchter unserer Wirtin, brachten mir das Lied aus dem Trompeter bei, das ich denn auch mit einem Blumenstrauß ihm zum Abschied aufsagte.


Das ist im Leben häßlich eingerichtet,
daß bei den Rosen gleich die Dornen stehn,
Und was das arme Herz auch sehnt und dichtet,
Zum Schlusse kommt das Voneinandergehn.
In deinen Augen hab' ich einst gelesen,
Es blitzte drin von Lieb und Glück ein Schein:
Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,
Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!

(Joseph Viktor Scheffel)



Es ist im Leben hässlich angerichtet,
Daß bei den Rosen gleich die Dornen stehen,
Und was das arme Herz auch sehnt und dichtet
Am Schlusse kommt das Auseinandergehn
62.


Vor der Abreise und Heimkehr weiß ich nur noch, daß ich zum ersten Mal die Marienburg sah, das machtvolle Wahrzeichen deutschen Geistes im Osten. Jetzt hausen dort wie im ganzen Osten bis Thüringen die Russen, bald werden die Polen dieses Land als ihr Eigentum ansehen. Möchte, wenn einst Enkel oder Urenkel diese Zeilen lesen, auf der Marienburg wieder die deutsche Fahne wehen oder doch der Schmerz über diesen Verlust noch tief in der Seele brennen63,64.


Marienburg in Westpreußen

Im Sommer 86 waren wir in Reimannsfelde65 gewesen, wo mein Vater mit einem gewissen Lenz Geschäftsverbindungen bei einer Ziegelei angeknüpft hatte. Von jenem Sommer ist mir nur in Erinnerung der Gang über den Steg beim Ausbooten und eine Dame, die mir bunte Seidenröllchen schenkte, 1887 und 88 waren wir in Neuhäuser66. Das „Luftschloß“ in dem wir damals wohnten, hat Tante Marie in einer sehr sorgfältigen Zeichnung festgehalten67.

Ich besinne mich auf diesen Sommer aber schon recht gut; und zwar sind es nicht mehr nur punktuelle Erinnerungen, sondern daneben hat in diesem Alter (7 Jahre) die Erinnerung schon Atmosphärenwert, und eine gewisse Zuständlichkeit unseres Lebens wacht in mir auf, wenn ich das Häuschen betrachte. Am deutlichsten sehe ich die Mäuse vor mir, die nach Tisch, wenn meine Mutter auf dem kleinen Sammetsofa schlief, unter dem Tisch in großer Zahl herumhüpften und die Krümel fraßen, in aller Ruhe, als wäre es der für sie bestimmte Futterplatz. Mein Vater, die Güte selber zu Mensch und Tier, hatte nämlich seine besondere Theorie über die Mäuseseele. Wenn unsere Amalie 3-4 solcher Tierchen morgens in der Mausefalle gefangen hatte - sie wollten oben zu dem Speck in die Falle und konnten dann nicht wieder heraus - dann mußten wir die Falle hinters Haus aufs Feld tragen und die Mäuschen frei laufen lassen. Mein Vater behauptete nämlich, sie hätten solche Angst bekommen, daß sie nie wieder kommen würden. Wir verstärkten die Angst noch dadurch, daß wir sie immer wieder griffen, ehe wir sie ganz der Freiheit überließen. Wenn sich die Mäuse aber so lang der Angst erinnerten, sollten sie dann nicht auch die Güte im Gedächtnis behalten, mit der sie bei uns behandelt wurden? Das steht jedenfalls fest; hätte Amalie da nicht als deus ex machina eingegriffen und ehe mein Vater die Tierchen sah, die ganze Falle in kochendes Wasser gesteckt, wäre unser „Luftschloß“ bald zu einem Mäuseturm geworden.

Der Garten war erst neu angelegt, bot uns Kindern aber große Bewegungsfreiheit. Hinten waren freie Felder und am Ende der Straße war das Fichtenwäldchen. Auf dem Felde weideten zwei Ziegen, eine schwarze und eine weiße. Die schwarze war in meinen Augen natürlich böse, die weiße gut. Die schwarze wollte ich töten. Weil Amalie gesagt hatte, das die Ebereschen giftig seien, rührte und mengte ich in meinem Eimerchen die Beeren zu einem schönen Brei. Ich empfinde heute noch das wonnige Gefühl das mich dabei wie ein feines Gruseln überlief. Gierig stürzte sich die schwarze auf den Brei, ängstlich hielt ich die weiße fern. Beim Nachmittagsspaziergang sagte Amalie, daß die Ebereschen nur für Kinder giftig seien, daß Ziegen sie mit Wonne fräßen. Da war ich traurig für meine weiße Ziege aber von meinem Mordplan ließ ich nichts verlauten. Wie oft habe ich diese Geschichte meinen Kindern erzählen müssen die offenbar bei der Bereitung des Giftbechers daßelbe unheimliche Gruseln empfanden, wie einst die siebenjährige kleine Mieze.

Auch der erste große Schmerz ist mit Neuhäuser und dem Gärtchen verknüpft. Wir zogen kleine Keuchel68 auf. Ein süßes weißes Hähnchen gehörte mir; ich hatte aber keine Ahnung, daß sie später fürs Schlachten bestimmt waren. Eines Tages war es aus der Umzäunung herausgegangen und wurde nun von hilfsbereiten Nachbarkindern mit mehr Temperament als Geschick zurückgetrieben. In seiner Angst wollte es durch einen Zaun hindurch und klemmte sich dabei zu Tode. Ich habe den tiefen Schmerz bis heute im Gedächtnis und im Herzen, doch soviel Wunden später im Leben geschlagen worden sind, meine Mutter sagte, sie habe das Bild nicht vergessen, wie ich dastand, das Hähnchen, dem der Kopf herunterhing, auf dem Arm, während unaufhörlich dicke Tränen auf das tote Tierchen herabkollerten. Ich bekam ein kleines weißes Hühnchen zum Trost, aber es bedeutete mir nichts; das Gefühle sich nicht ohne weiteres auf ein anderes Objekt übertragen lassen, die ganze Unersetzlichkeit des Individuums, das „Einmalige“ und seine ganze Tragik dämmerte in meinem kleine Herzen auf. “In idem Flumen non bis descendimus.69


Meine Mutter war in diesem Sommer während der Schulzeit bei den 4 Brüdern in der Stadt. Tante Marie und Tante Ottilie70 probierten ihre Erziehungskünste an uns.

Mein Vater brauchte zum Kaffee stets ein Siebchen, weil er die Haut in der Milch nicht ertragen konnte. Ob es ererbt, ob es nachgeahmt war, kurzum, wir Mädels konnten auch nicht ohne Sieb auskommen. Tante Marie wollte uns diese schlechte Angewohnheit abgewöhnen und versprach jedem von uns, der eine Woche ohne diesen Apparat auskäme ein Geschenk. Mit Todesverachtung habe ich 8 Tage die Haut geschluckt und dann meinen Fangbecher als Siegestrophäe in Empfang genommen. Danach blieb alles beim Selben, nur das Grauen vor den Hautfetzen hatte sich gesteigert und ist mein ganzes Leben nicht gewichen. Aber ich habe für meine eigene Erziehertätigkeit daraus gelernt, daß sich solch´ ein Empfinden nicht schnell und gewaltsam beseitigen läßt, nur langsame freiwillige Gewöhnung kann da etwas ausrichten71.

Tante Ottilie hat mir in Neuhäuser auf dem Balkon Schläge gegeben, die einzigen auf die ich mich besinnen kann. Ich sollte klingeln, parierte aber nicht aufs Wort, sondern steckte noch, offenbar mürrisch, einen Bissen in den Mund. Die Scham über diese Behandlung, die meine Ehre empfindlich verletzte hat mich viele Jahre nicht verlassen und eine hohe Mauer zwischen Tante Ottilie und mir aufgerichtet. Dies Ereignis muß schon im Jahre 1987 gewesen sein, als ich 6 Jahre alt war, denn im August 1988 war Tante Ottilie schon in Rothenstein. Meine Mutter wendete solch drastische Maßnahmen nicht an72.

Vor unserem Abschied an einem herbstlichen Septembertage pflocht Amalie uns Kränze, wir warfen sie ins Meer, um zu erkunden, ob wir im nächsten Jahr wiederkommen würden. Wurden sie an den Strand gespült, kamen wir wieder. Sie kamen nicht zurück, sie schwammen ins Meer hinaus.


 

41 Gottlob Friedrich Eckhardt, Kaufmann, geb. 29.4.1800 Pleidelsheim, gest. 26.3.1876 Cannstadt, mar. 18.4.1847 Stuttgart mit Friederike Marie Stein („Die schöne Marie“), geb. 9.6.1819 Neustadt/Dresden, gest. 21.10.1856 Stuttgart

42 2. M,ärz d. J.

43 Joh. Christoph Friedrich Eckhardt, Gründer der Firma C.F.Eckhardt, Kaufmann in Ludwigsburg, geb. 3.3.1757 Pleidelsheim, gest. 6.4.1833 Ludwigsburg, mar. 21.1.1796 Pleidelsheim mit Maria Elisabeth Spittler, geb. 13.4.1766 Cannstadt, gest. 15.5.1852 Stuttgart

44 Aus den Erinnerungen von Marion Sehmsdorf (Quelle: http://schaper.org/ahnen/lemcke/FirmaCFEckhardt.htm "C.F.E." war gealtert und müde geworden und sehnte sich nach Ruhe. Unter Mitwirkung des eben so tätigen wie einsichtsvollen Tochtermannes F.G. Schulz übernahm der Sohn Gottlob das Geschäft und verlegte es nach Stuttgart, zu welchem Behufe er das Haus N. 22 in der Kronprinzstraße, dem Gymnasium gegenüber, kaufte. In dem wegen seiner Strenge bekannten Winter, am 15. Jan. 1830, übersiedelte er nach Stuttgart, eröffnete das Geschäft am Geburtstage des Vaters am 2. März und behielt aus Dankbarkeit und zur Ehre des Vaters dessen Firma: "C.F.E." bei.

45 Verbleib unbekannt

46 Anmerkung von Marion Sehmsdorf im Manuskript: Mit Rührung gelesen Marion

47 Anmerkung im Manuskript: Einschübsel etwas gekürzt und bearbeitet

48 Anmerkung im Manuskript: Einschiebsel gekürzt und bearbeitet

49 Gottlob Friedrich Eckhardt

50 Karl Rudolf Brommy (* 10. September 1804 in Anger bei Leipzig (Sachsen) als Karl Rudolf Bromme; † 9. Januar 1860 in St. Magnus bei Bremen) war ein Marineoffizier und deutscher Admiral. Er war Befehlshaber der ersten deutschen Flotte.

51 Das Bild ist seit 1994 in Besitz von Jost Schaper

52 Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke, die jüngste Schwester von Marie Bock

53 Käthe Ottilie Cölle, geb. Bock, geb. 12.07.1915 Bartenstein/ Ostpreußen, gest. 14.11.1982, beerdigt auf dem Friedhof Rosrath-Kleineichen / Eifel, verheiratet mit Hans-Heinrich Cölle, Apotheker in Allenstein, geb. 19.02.1913, gefallen am 15.07.1943 in Russland bei Ryndinka / Kursk bei der „Schlacht um den Kursker Bogen“

54 Friederike Marie Stein, geb. 9.6.1819 Neustadt/Dresden, gest. 21.10.1856 Stuttgart

55 Anmerkung von Marion Sehmsdorf: Im Archiv in Stolberg. Gemeint ist vermutlich das Familienarchiv der Familie Sehmsdorf, derzeit untergebracht bei Eckhard Sehmsdorf.

56 Vermutlich das Elternhaus von Wilhelm Bock, dem Ehemann von Marie Bock.

57 Im Manuskript ist der oben wiedergegebene Zeitungsausschnitt (Frakturschrift) mit der Todesanzeige eingeklebt.

58 Amalie Eckhardt, führte nach dem frühen Tod der 3. Frau den Haushalt des Vaters, geb. 02.06.1836 gest. 20.08.1909 Stuttgart verh. 23.02.1867 mit F. Conradt, Kaufmann in Stuttgart geb. 16.04.1837gest. 12.10.1912

59 Elise Eckhardt geb. 02.10.1831 gest. 17.05.1902 Stuttgart Sie wohnte mit dem Vater zusammen, pflegte ihn bis zu seinem Tode.

60 Heute: Hotel garni Die Ölmühle, Rosenstr. 10, 97688 Bad Kissingen

61 John Galsworthy (* 14. August 1867 in Kingston Hill, Surrey, England; † 31. Januar 1933 in London) war ein englischer Schriftsteller und Dramatiker. Seine Romanreihe The Forsyte Saga gilt als ein Klassiker der modernen englischen Literatur.

62 Joseph Victor Scheffel, ab 1876 von Scheffel (* 16. Februar 1826 in Karlsruhe; † 9. April 1886 ebenda) war ein im 19. Jahrhundert viel gelesener deutscher Schriftsteller und Dichter, Autor von Erzählungen und Versepen sowie mehrerer bekannter Liedertexte. Er war indirekter Begründer des Begriffes „Biedermeier“.

63 Handschriftliche Anmerkung von Marie Bock: den 9.VIII 45

64 Handschriftliche Anmerkung von Marion Sehmsdorf: mit Schmerz gelesen im September 1994 Marion S

65 Reimannsfelde heißt heute Nadbrzeze und liegt in Polen, gehörte ehemals zum Gebiet Westpreussen

66 Neuhäuser in der Nähe von Pillau, Ostpreußen

67 Die Zeichnung befindet sich im Skript und zeigt ein zweigeschossiges Holzhaus mit Flachdach und angebauter Veranda. Die Zeichnung ist beschriftet mit Das Luftschloß in Neuhäuser Tante Marie Lemke 16.8.88

68 Küken

69Heraclitus, korrekt: In idem flumen bis descendimus et non descendimus In den selben Fluß steigen wir nicht zum zweitenmal

70 Johanna Marie Louise Ottilie Goerke, verwitwte Petzke, geb. Eckhardt, geb. 20.7.1855 in Stuttgart, gest. 16.3.1931 in Baden-Baden.

71 Anmerkung von Marion Sehmsdorf: dankbar gelesen die Tochter Marion

72 Anmerkung von Marion Sehmsdorf: Ähnliches erlebte ich 1914 in Baden-Baden zu Besuch bei Großtante Ottilie M. S.



 

 

 

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