Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

Der Hof

Das Schönste aber an unserm Haus war der große Hof! Waren die Schularbeiten gemacht dann hielt mich nichts mehr oben in der Stube, dann ging´s im Sommer herunter auf den Hof und von allen Häusern ringsherum eilten Mädchen und Jungen herbei, 10, 20, 30 Kinder waren es oft, die sich zum „Räuber und Soldat“ vereinten. Um die Parteien festzustellen wurde „gekaisert“ und ich war immer stolz, wenn ich nach den großen Jungen als erstes Mädel gerufen wurde. Ich war auch mit ganzer Seele und großer Leidenschaft dabei und kein Zaun war zu hoch, kein Gegner zu stark, wenn es einen Kameraden aus der Gefangenschaft zu befreien oder sich selbst zu retten. Als der Hof später mit dem großen …7 nicht mehr Abstellraum für landwirtschaftlichen Maschinen war, sondern zum Heringshof degradiert wurde, störte das unsere Spielleidenschaft nicht; die Heringsfässer wurden im Gegenteil von unserer Spielleidenschaft mit erfaßt. Über drei Fässer zu springen und ein Heringsfaß darauf stehend weiter zu rollen, das waren zwei meiner Akrobatenkunststücke, die die wenigsten in meinem Alter fertigbrachten. Die Kleider mußten oft daran glauben, denn die Hosenmode für Mädchen gab es damals noch nicht; auch den Beinamen “wilde Hummel“ trugen mir diese wilden Knabenspiele ein; aber die robuste Gesundheit und die Unerschrockenheit die mich mein ganzes Leben begleitet haben, bis ich es zu toll trieb, verdanke ich diesem Hofleben. Wenn der Lärm zu groß wurde, erschien meine Mutter oben am Fenster, auf das Klatschen Ihrer Hände wurde es still und wir schwirrten wie ein Schar Krähen auseinander; aber lange hielt die Stille nicht an. Auch im Klippball und im Ballspielen und Stelzengehen brachten wir es zu großer Virtuosität. Die Hoffreundschaften banden uns auch fest miteinander. Als ich nach fast 40 Jahren eine solche „Hoffreundin“ Lena Schwettke wieder fand, war es als hätten wir uns gestern auf dem Hof getrennt.

Die Familie bei uns war eine „familia“ im römischen Sinne der Römer, die ja bekanntlich auch die Sklaven dazu zählten. Zu dieser „familia“ gehörten demnach außer meinen Eltern und 6 Geschwistern eine früh verwitwete Schwester meiner Mutter, eine sehr schöne Frau Ende 208, ein Bruder meines Vaters, Onkel Paul, ein Bruder meiner Mutter, Onkel Alex9, unsere Amalie, erst Kinder- dann Stubenmädchen, dann unentbehrliches Faktotum der Familie, die Rose Amme, dann Waschfrau, die Wolter Waschfrau, die Nähluise, die Nähjohanna, die beide 2 Tage der Woche oben im Nähzimmer alles in Ordnung hielten, das Fräulein Krieger, die Schneiderin und schließlich noch die beiden Faktore, Kubillus und Albert, die am Morgen antraten und Aufträge entgegennahmen. Später kamen hinzu Fräulein Wermke unsere Privatlehrerin, Fräulein Janzen unsere Klavierlehrerin, die beide an keinem Fest der Familie fehlten und Mlle Francois aus Brüssel, unsere liebe Hausgenossin während 3er Jahre, mit der wir brieflich bis zum 2ten Weltkrieg verbunden waren.

Tante Ottilie gehörte so eng zu uns, daß ein Bruder von mir, gefragt, wer seine Eltern seien, prompt antwortete: „Papa, Mama und Tante.“ Sie war meiner Mutter nach Ostpreußen gefolgt, hatte mit erst 18 Jahren einen schönen Mann geheiratet und nach wenigen Jahren ihn im Irrenhaus und den kleinen 4jährigen Sohn dann bei uns an Diphtherie verloren. Sie war sehr schön bis in ihr hohes Alter, zu uns Kindern aber sehr streng, so daß große Freude war, als sie 1888 einen Gutsbesitzer auf dem herrlichen Gut Rothenstein10 heiratete. Dadurch kam zu unserer schönen Häuslichkeit noch der herrliche Gutshaushalt mit dem prachtvollen Park hinzu. Mir imponierte besonders der Kutscher Wilhelm mit seiner Livrée und dem Zylinder auf dem Bock des schönen Coupés mit Gummirädern. Tante Ottilie war aber auf Dauer dem Gutshaushalt nicht gewachsen, Onkel hatte viel Ärger durch Brandstiftung und so verkauften sie 1899 das Gut, das so nahe der Stadt gelegen bald elektrische Bahn bekam und parzelliert wurde. Millionenwerte gingen dadurch uns 3 Schwestern, denen das Vermögen vermacht worden war, verloren. Sie selber zogen nach Wiesbaden und später hat eine große Liebe mich mit Tante Ottilie bis zu ihrem Tode verbunden.

W. O. Goerke Schwestern Ottilie Goerke, geb. Eckhardt und Marie Lemke, geb. Eckhardt

W. O. Goerke

(Quelle: Jost Schaper)

Ottilie Goerke (links) und Marie Lemke, geb. Eckhardt)

   

Onkel Alex war die große Wonne von uns Kindern. Kaum ein Abend verging ohne daß Onkel Alex oder Onkel Paul oder alle beide noch zur Tür hereinkamen. Onkel Alex hatte einen romantischen Schimmer für uns Kinder schon dadurch, daß er als Junge sich Geld vom Geschäftsführer geholt hatte und mit einem Freund durchgegangen war. Er hatte durchaus zur See gehen wollen, mein Großvater hatte es aber nicht gestattet, er wußte wohl, daß für den in reichem Hause aufgewachsenen, damals schon eleganten Jungen das Leben als Schiffsjunge nicht paßte. Bis an die französische Grenze waren die beiden Ausreißer gekommen, da wurden sie festgenommen und von einem älteren Bruder, Onkel Hermann11, nach Stuttgart zurückgebracht. Meine Mutter war in großer Angst, wie es dem Bruder bei dem strengen Vater ergehen würde, aber es ging über Erwarten gut ab. Alexander bekam die Erlaubnis zur See zu gehen. Mein Großvater12 wußte sicher, daß er damit am besten kuriert würde. Er wurde dann auch Schiffsjunge und mit Wehmut betrachtete meine Mutter seine feinen Kleider, die in einem Sack zusammengeschnürt zurückgeschickt wurden.

Alexander Eckhardt mit seiner Frau Grete
Alexander Eckhardt mit seiner Frau Grete
 
Es war dann auch ein hartes Dasein. Eine Marine gab es damals noch nicht, war doch die erste Marine unter Admiral Bromme13 unter den Hammer gekommen – der Bruder des Admirals war der Pate meiner Mutter und sein Patengeschenk ist heute noch unberührt unter meinem Silber14 - Körperliche Züchtigung war an der Tagesordnung, ja einen andern Schiffsjungen, so erzählte Onkel Alex, wurden zur Strafe für´s Naschen 2 Vorderzähne gezogen. Die Segelschiffe waren viele Monate unterwegs. Der junge Eckhardt machte sehr bald einen schweren Schiffsbruch mit und wurde mit einem andern von der Besatzung gerettet. 8 Stunden hatten sie oben auf dem Mast gesessen, da kam das rettende Schiff. Kaum waren sie geholt, da sank auch schon der ganze Schiffsrumpf. Nie werde er, sagte Onkel Alex, das Geschrei des Kochs vergessen, der unten in der Küche des gesunkenen Schiffs vergebens einen Ausgang suchte, da das Meer die Türen verschloß. Auf einem andern Schiff wurde der Junge so hart behandelt, daß er, als das Schiff aus New York auslief, über Bord sprang und an Land zurück schwamm und dann barfuß durch New York lief, um den deutschen Consul aufzusuchen.

Wie fühlte sich aber der arme Schiffsjunge, als er in Argentinien von einem Geschäftsfreund seines Vaters aufgenommen wurde und beim Essen hinter seinem Stuhl ein Schwarzer ihm Kühlung fächelte. Nach einigen Jahren war die Knabenromantik aber reichlich abgekühlt, Alexander kehrte in das Comptoir seines Vaters zur Firma C. F. Eckhardt zurück. Als er dann in einer Cajüte I. Klasse nach New York herüberfuhr, wettete er mit einigen Damen, daß er zum Topsegel am Mast heraufklettern könne. Dem eleganten jungen Mann wollte es keiner glauben, aber im Nu war er oben gewesen und gewann die Wette. Allen solchen Erzählungen am Sonntag Nachmittag oder an Winterabenden lauschten wir gespannt, wenn auch gelegentlich etwas Seemannslatein sich drunter mischte, der Clou war aber, wenn der Onkel am gedeckten Tisch „Seegang“ spielte, die Lampe anstieß und den Tisch bog daß Gläser und Flaschen purzelten und meine Mutter vor Entsetzen aufschrie. Wir sieben Kinder konnten uns vor Lachen kaum halten. Aber ich besinne mich nicht, daß je etwas Ernstliches dabei passiert wäre. Als sein Vater starb, zahlten die älteren Stiefbrüder dem jungen Menschen gleich sein ganzes Kapital aus und kümmerten sich nicht weiter um ihn. Er ging nach Italien, soll dort vierspännig gefahren sein und gut gelebt haben, schließlich kehrte er in Monaco ein, und das Ende vom Liede war, daß mein Vater ihn zu sich nach Königsberg holen lassen mußte. Er hieß in Königsberg dann nur der „schöne Alex“ und blieb bis in sein hohes Alter Cavalier auch zu mir seiner Nichte. Er machte sich später selbstständig, hatte das erste Auto zum Verkauf in Königsberg, heiratete und wurde amerikanischer Consul15 und Kirchenrat.

Onkel Paul16, der Bruder meines Vaters17, war sein ganzes Gegenstück, und doch haben die beiden sich bis ans Ende immer gut vertragen. Jeder war eine ganze Persönlichkeit und erkannte sie auch im andern voll an. So elegant wie Onkel Alex war, so schlicht war Onkel Paul. Die Lemkes stammten vom Lande und waren allesamt schlichter und erdhafter. Onkel Paul war auch Landwirt gewesen, hatte sich dann im Krieg 70/71 Rheumatismus geholt und kam dann zu meinem Vater. Der richtete ihm in seinem Geschäftshaus Kneiphofsche Hofgasse 1. – das Transparent, das in meinem Zimmer hängt, zeigt das Haus18 – ein Geschäft ein für ausländische Hölzer und Fourniere, er blieb bis zu seinem Tode einzig dastehend, und dort führte Onkel Paul sein Leben.

Königsberg: Kneiphöfische Hofgasse Nr. 1
Königsberg: Kneiphöfische Hofgasse Nr. 1
 

Er kochte sich oft selbst in seinem Zimmer, er saß, wenn ich ihn besuchte; im Kittel zwischen seinen Hölzern und las wenn kein Kunde kam, im neuen Testament, vielfach auch im französischen oder englischen. Er war ein durch und durch frommer Mann und kannte Sein Wort genau. Noch mit 80 Jahren – er wurde 89 – hat er an der See gepredigt. Er gehörte mehr der Gemeinschaft an als der Landeskirche. Immer hatte er, der so schlicht lebte, etwas übrig, wenn es zu helfen galt. Im ersten Weltkrieg brachte er uns einen riesengroßen Schinken; die Freude, die der bei meinen Kindern auslöste, werde ich nie vergessen. Meiner Schwester Ottilie19 hat er das ganze Studium bezahlt, auch meiner Tochter Marion20 noch im hohen Alter, schon nach der Inflation, mehrere Jahre den Wechsel bezahlt.

Königsberg/pr.,  Der Katzensteig im Löbenicht
Königsberg:
Der Katzensteig im Löbenicht21
 

Als mein Bruder Walter aus Russland nach abenteuerlicher Flucht 1917 heimkehrte, kaufte er ihm ein Haus in Pillau und richtete es ihm ein mit einem Laden, meine Mutter hat er jahrelang über seinen Tod hinaus monatlich unterstützt, meinen Bruder Georg aus schweren geschäftlichen Schwierigkeiten gerettet. Aber mehr als diese materiellen Unterstützungen wiegt doch seine seelische Beeinflussung und Betreuung; in meiner Kindheit, von der ich spreche, wußten wir ja noch gar nicht, daß es materielle Not gäbe, und die Erklärung der Bitte: unser täglich Brot gib uns heute, Essen, Trinken, Kleider, Schuh, schien mir richtig komisch.

Mein Vater hatte wenig Zeit für uns. Wenn er heimkam, lagen wir im Bett, auch mittags aß er meist allein nach uns, meine Mutter ging wenig aus, wenigsten selten aus der Stadt selbst nicht an der See. Sie lebte in ihrem Haus und fühlte sich wohl darin, hatte auch viel Logierbesuch. Da war Onkel Paul da. Er nahm am Sonntag die 4 Jungens mit auf Wanderschaft, wo sie Regen, Sturm und Hunger ertragen lernten, er zeigte ihnen Vögel, Bäume, Pflanzen. Auch mit uns Mädchen ist er gewandert, selbst als wir schon aus dem Kindesalter hinaus waren; das Radfahren lernte er noch mit 60 Jahren und nahm uns mit auf seine Touren ringsum die Stadt. Für Überanstrengung war er nicht, aber Wind und Wetter mußten uns tüchtig auslüften und eine Tasse Kaffee und eine Buttersemmel gehörten dazu. Im Frühling holte er uns morgens zur Frühluft ab. Von ihm bekam ich die ersten Anregungen zum Naturheilverfahren, wie man damals sagte. Ich bin innerlich eng mit ihm verbunden geblieben, bis zu meiner silbernen Hochzeit hat er gelebt. Als wir sie feierten und zugleich die Verlobung meiner ältesten Tochter, lag er im Sterben22.

Aber die Freude, daß diese Großenkelin sich mit dem jungen Pfarrer Sehmsdorf verlobte, hat er doch noch erlebt und genossen. War doch seine Mutter, die er sehr verehrte, eine geborene Sehmsdorf, und im Hause seines Onkels Sehmsdorf war er groß geworden23. Bei seiner Einäscherung im Krematorium war der Raum ganz gefüllt mit vielen Menschen besonders Mädchen und Krankenschwestern, die ich nie gesehen hatte. Und manche von ihnen sagten zu mir: wer wird uns nun in der Konditorei bewirten? wer wird uns Schokolade schenken? wer wird uns nach Cranz24 mitnehmen? wer wird uns helfen, wenn wir in Not sind?

Aus meiner Kindheit, ja meinem Leben Onkel Alex und Onkel Paul wegzudenken ist unmöglich, denn beide begleiteten mein Leben bis zu meinem 50sten Lebensjahr, und ich kann mir schwer ein Familienfest oder ein größeres Ereignis denken das diese beiden „Onkels“ nicht mit Witz, Scherz oder christlichen Reden verschönt und belebt hätten.

Zu unserer Familie gehörte ferner unsere „Amalie“. Sie war schon auf dem Steindamm zu uns gekommen und ich glaube mich bestimmt darauf zu besinnen, wie meine Mutter sie mietete.


Königsberg/Pr., Blick aus dem Postgebäude auf den Steindamm, heute Leninprospekt

Blick aus dem Postgebäude auf den Steindamm
(heute: Leninprospekt),
Sicht auf den Turm der Steindammer Kirche.

 

Sie sollte Kindermädchen werden, das ging ihr aber wider die Ehre, worauf meine Mutter sagte: „Ist es nicht ein größeres Vertrauen, wenn ich Ihnen meine Kinder anvertraue, statt meiner Möbel?“ Das weiß ich natürlich nur aus den Erzählungen meiner Mutter.

Sie hat jahrelang treu für uns gesorgt. Besonders meine jüngste Schwester25 war ihr an´s Herz gewachsen. Mit welcher Liebe und Sorgfalt hat sie die Stickereikleidchen mit den rosa und hellblauen Unterzügen – ich sehe dies deutlich vor mir – geplättet, und welcher tiefinneren Freude unsere Spiele begleitet, mit welcher Ruhe uns erzogen, der Jüngsten las sie jeden Wunsch von den Augen ab. Elisabeth war mit 2 Jahren nur mit größter Not und dank der aufopfernden Pflege aller dem Tod entrissen worden; nun war dies allerliebste gescheidte Persönchen der Vorzug aller. Wenn ich später meine Schwester vom Morgen bis zum Abend so fleißig alle schwere Arbeit machen sah, habe ich manchmal gedacht, was würde Amalie zu diesem Leben ihrer „Goldenen“ sagen. Die warmen Unterzüge im Winter waren dem Kind verhaßt und wenn Amalie damit kann, sagte Elisabeth, die kaum sprechen konnte, das Verschen aus dem Bilderbuch: „Tommst mit der alten Leier her, die ist ja längst nicht Mode mehr“. In welchem Zusammenhang der Vers im Bilderbuch stand, weiß ich nicht mehr – vielleicht weiß es eine meiner Schwestern – aber Amaliens Lachen und das pfiffige Gesichtchen der Kleinsten sehe ich heute noch.

Als wir größer wurden, rückte Amalie zum Stubenmädchen auf, und es dauerte nicht lange, da wurde sie die Seele des Hauses und war nicht mehr wegzudenken. Sie war noch geordneter und eigener als meine Mutter und das will viel sagen – und durch ihren Fleiß und ihre Pflichttreue hatte sie sich eine Stellung erworben, die selbst den Herren Brüdern Achtung abnötigte, sie sparte an allem, als wäre es ihr Eigenes, und wurde doch nicht zum Haustyrann. Als nach meines Vaters Tod der Prokurist das große Vermögen verspekuliert hatte, stieg sie zu wahrhafter Größe. Meine Mutter mußte damals gewissermaßen ins Exil und Amalie hat uns unter den veränderten Verhältnissen betreut. Sie behielt den Kopf oben und sparte noch mehr. „Amalie, so haben doch die Suppe verdünnt!“ „Nein, Herr Hermann“ „ Amalie!“ „Wirklich nicht, ich habe bloß einen Plurksch Wasser zugegossen!“

Aber als dieser jüngste etwas leichtsinnige Bruder elend und krank aus Paris zurückkam, da sagte sie: „Jetzt Herr Hermann sollten Sie sich aber nicht mehr beschweren, daß ich Ihnen die Butter zu dünn streiche.“

Sie hat mich noch als Braut geschmückt, sie hat mein ältestes Kindchen26, das zuerst nicht gedieh, mir am Leben erhalten – sie gab heimlich gekochte Sahne zu trinken, ich hatte nicht den Mut dazu – sie hat mir jungen Frau in einer mädchenlosen Zeit aus der Not geholfen und meinen Haushalt wieder ins Rollen gebracht; wenn ich sie in Königsberg in ihrer kleinen Wirtschaft besuchte, war es mir, als käme ich nach Hause und mir wurde warm ums Herz und ich wurde froh, wie als Kind.

Da ist die Heimat, wo man gerne dich kommen, ungern wandern sieht.“

Aber eine leise Wehmut mischt sich heut beim Gedenken an sie; daß wir alle nicht genug getan haben, sie zu pflegen und zu erhalten. Der Zusammenbruch unseres Hauses hatte sie in tiefster Seele getroffen. Seit der Zeit begann sie zu kränkeln, und während ich gerade krank lag, wurde diese Treueste der Treuen begraben.

In jedem Frühjahr, wenn der Flieder blüht, wenn die ersten Birken grünen, wenn die Häuser sich mit Maien schmücken, erlebt sie in meinem Herzen eine Auferstehung. Wie liebte sie den Flieder und Pfingsten. Pfingsten Heiligabend (wer feierte ihn wie sie?), sie hat mich gelehrt ihn zu feiern.

Und die Rose ? Ich habe sie nur als Waschfrau gekannt, aber ursprünglich, ehe ich noch auf der Welt war, war sie als Amme meines jüngsten Bruders zu uns ins Haus gekommen.

Die Stufenfolge der Ämter verlief dann so, daß die Amme Kinderfrau wurde, dann Köchin, dann Stubenmädchen, und schließlich, wenn sie heiratete, Wasch und Reinmachfrau, und mein Vater pflegte scherzend zu sagen: „Bei jedem Kind mußte ich mich an eine andere Küche gewöhnen, wenn die letzte Amme zur Köchin emporstieg.“ Unsere Rose hat diese ganze Leiter erklommen, als sie heiratete und nur noch am Sonnabend und zur Wäsche ins Haus kam, hat das „Hermändle“ sich lange Zeit sehr nach ihr gebangt. Niemand anders sollte ihn anziehen. Man sagte ihm die Rose käme am Sonnabend. So fragte er denn vom Sonntag an: „Ist heute Sonnabend?“ bis zum Donnerstag, dann hatte er die Trennung überwunden, am Sonnabend, wenn seine Rose ihn angezogen hatte, begann das Lied von neuem: „Ist heute Son na bend.

Hatten schon die engen Höfe der Arme-Leutewohnungen mein soziales Gewissen als Kind wachgerufen, so wurde, als ich heranwuchs, unsere Rose mir geradezu zum sozialen Problem. Sie kam morgens um 7 Uhr zur Wäsche und ging um 8 Uhr nach hause, ohne Mittagspause. Sie hatte 3 kleine Kinder zu Hause. „Den Kaffee habe ich in die Röhre gestellt und das Brot dabeigelegt“, sagte sie mir. Am Tag bekam sie 1,00 M.27 Wie war es nur möglich, frage ich mich jetzt noch, daß diese arme Frau mit solcher Hingabe und Sorgfalt unsere große Wohnung säubern und putzen, uns Kindern die weißen Bettchen beziehen konnte und das gute Essen, das wir täglich hatten, sehen konnte, ohne auch nur die geringste Spur des Neides zu zeigen? Sie verdiente, selbst wenn sie täglich arbeitete, was doch nicht möglich war, höchsten 250 M. im Jahr und eine Gesellschaft bei uns kostete das Doppelte!

Und ich an meinem Ende wollte
Ich hätte jenem Weibe gleich
Erfüllt, was ich erfüllen sollte
In meinen Grenzen und Bereich.

Widmung unter dem Bild von Rose

Ich besitze ihr Bild28 und ich habe mir erst jetzt an diesen ruhigen Zügen die Antwort auf jene Frage meiner Jugendzeit herausgelesen. Sie hatte Achtung und Verehrung für meine Eltern, für deren Kinder, deren Sachen. Unser Glanz war ihr Glanz, unser Besitz ihr Besitz, unser Leid ihr Leid. Meine Mutter erzählte oft wie stolz Rose und Jette, meine Amme, ihre beiden Zöglinge spazieren trugen. Sportwagen gab es damals noch nicht und mein Bruder Hermann lief noch lange nicht, als ich zur Welt kam. Wie stolz bediente sie im schwarzen Kleid und der schönen weißen Schürze bei Gesellschaften, wo die Tafeltücher schneeweiß strahlten, die sie gewaschen und gestärkt hatte, wo die Gläser und das Silber blinkte und blitzte, das sie geputzt hatte; ihre Verehrung für unser Haus fand ihren Ausdruck in der pfleglichen behutsamen Behandlung alles dessen, was zu unserm Besitz gehörte.

Und meine Eltern dankten ihr, ohne den Standesunterschied zu verwischen. Gar manches Mal sagte mein Vater, wenn er die Rose lange nicht gesehen hatte; „Laßt mir nur die Rose nicht verhungern!“ Sie wohnte frei in einem der Häuser meines Vaters, alle Kleider, die wir getragen hatten, bekamen ihre Kinder, sauber und ganz; besonders bedacht wurde das jüngste Kind, das nach meinem Bruder Hermann getauft war. Der Junge entwickelte sich leider zu einem Taugenichts, er war noch Hausdiener als ich verheiratet war in unserem Schülerheim29. Er artete seinem Vater nach und ist in Amerika verschollen. Unter dem Nachlaß meiner Mutter fand ich einen Brief von Roses ältester Tochter, in dem sie Roses Tod meldete: „Die Mutter sollte operiert werden, ging aber vorher zum Friedhof, um das Grab des Herrn zum Geburtstag zu schmücken (13.9.). 3 Tage nach der Operation ist sie gestorben.“

Und wie die Amalie und die Rose gehörte die Näh Johanna in unsere Familie. Die Nähte waren dadurch keine Last wie heute, sondern eine Freude. Kein Fädchen lag auf der Erde, keine Unordnung im Zimmer wie heute. Ich sehe sie mit der großen Hakennase und dem schwarzen Schleier über dem glatten Scheitel deutlich vor mir, wie sie behutsam Schere und Nadel aus dem Etui zog und die Brille aufsetzte! In meiner Skizzenmappe30 ist noch ein Bild von ihr. Vor Weihnachten saß sie täglich und nähte Puppensachen. Manch ein Kleidchen und Mäntelchen, mit dem meine Enkelchen spielten, zeugt heute noch von ihrer sorgfältigen Arbeit und ruft mir meine eigenen Kindersachen ins Gedächtnis. Als sie einmal krank war, hat mein Bruder Hermann sie aus eigenem Antrieb besucht, er war damals 9 Jahre, und hat ihr ein Pärchen Löbelsche Würstchen gebracht. Es ist mir in Erinnerung geblieben, weil diese Wahl des kleinen Jungen sehr bewundert wurde. Mir und meinen „Hofbekanntschaften“ hat sie über manche Not hinweggeholfen, wenn bei dem wilden Spiel auf dem Stoff Risse, Löcher oder Flicken statt Lorbeeren die Helden zierten. „Schnell zur Nähjohanna!“

In dieses stille, geschlossene Leben in Haus und Hof in den ersten Jahren auf dem Lizent drangen 3 Ereignisse, die mich mit der Außenwelt und andern Menschen in Beziehung brachten und meinen Gesichtskreis bedeutend erweiterten: der Beginn des Unterrichts, die Reise nach Stuttgart und Kissingen und die Neueinrichtung des Landhauses in Genslack31.


 

7 unleserlich

8 Johanna Marie Louise Ottilie Goerke, verwitwte Petzke, geb. Eckhardt, geb. 20.7.1855 in Stuttgart, gest. 16.3.1931 in Baden-Baden. mar 1. 8.4.1875 in Stuttgart mit Albert Emil Petzke, geb.30.12.1845 in Pillau, gest. 3.11.1883 in Königsberg. 1 Sohn: Otto Gottlob Hermann Petzke, geb. den 18. Dezember 1875 in Königsberg, getauft den 16. April 1876 in Königsberg, Paten: Herr und Frau Lotter senior, Frau de Bary, Frau Preiss, Frau Petzke, Elise, Antonie und Marie, Herr Borke v. Schwingel, gestorben den 14. März 1880. mar 2. 8. März 1889 in Rothenstein bei Königsberg/Pr W.0. Goerke, Besitzer von Rothenstein bei Königsberg, geb 4. April 1832, gest. 4. Juli 1909 in Bad Sachsa, keine Kinder (Quelle: http://schaper.org/ahnen/lemcke/goerke_ottilie.htm)

9Alexander Eckhardt, Kaufmann und amerikanischer Konsul in Königsberg/Pr., starb daselbst, mar Greti Lemke geb. 18.06.1849 gest. 13.01. Königsberg/Preußen

10 Rothenstein ist ein Vorort von Königsberg/Ostpreußen. W.O. Goerke besaß dort das Gut mit Brennerei.

11 Hermann Eckhardt, starb in Stuttgart, nach langer Tätigkeit in Paris geb. 06.05.1841 gest. 19.07.1912 Stuttgart verh. 28.05.1881 Paris mit Dora [...] geb. 21.10.1847 Paris gest. 07.02.1903 Hamburg(?)

12 Gottlob Friedrich Eckhardt, Kaufmann * 29.4.1800 Pleidelsheim † 26.3.1876 Cannstadt mar. 18.4.1847 Stuttgart mit Friederike Marie Stein * 9.6.1819 Neustadt/Dresden † 21.10.1856 Stuttgart

13 Bromme, Karl Rudolf, genannt Brommy, geb. Anger (bei Leipzig) 10.9.1804, gest. St. Magnus (bei Bremen) 9.1.1860, war 1848-53 Admiral der von der Frankfurter Nationalversammlung geschaffenen deutschen Kriegsflotte

14 Verbleib unbekannt

15 U.S. Konsule in Königsburg: J. H. Brockman (Consular Agent 1862-66) Louis Moll (Consular Agent 1874) Alexander Eckhardt (Consular Agent 1902-17) Sigurd E. Roll (Vice Consul 1922) Alfred W. Donegan (Consul 1922) Harold D. Clum (Consul 1924) John R. Ives (Vice Consul 1926) (Quelle: http://politicalgraveyard.com/geo/ZZ/KL.html)

16 Paul Lemke, Sohn von Augusta Lemke, geb. Sehmsdorf (Anmerkung von Marion Sehmsdorf in der Abschrift der Lebenserinnerungen der Familie Sehmsdorf)

17 Ein weiterer Bruder war Hugo Lemcke, Professor und Director des Stadtgymnasiums in Stettin, Historiker, Provinzialkonservator

18 Verbleib unbekannt

19 Dr. Ottilie Lemke, geb. 27.12.1881 Königsberg

20 Marion Sehmsdorf, geb. Bock, geb. 3.4.1906 Tilsit / Ostpreussen, gest. 10.09.2000 Stein / Deutenbach

21 Das Manuskript enthält den Ausschnitt eines Buches, betitelt mit Bild 9: Katzensteig, führt von der Tuchmacherstraße zur Löbenichtschen Kirche. Handschriftlich findet sich darunter der Text:: Onkel Pauls Wohnung. Da Bild zeigt einen engen Fußweg zwischen Wohnhäusern, der Weg schwenkt leicht nach rechts, und wird zu einer Treppe. Es ist mir gelungen, ein Photo im Internet zu finden, welches exakt dieselbe Stelle aus fast dem gleichen Blickwinkel zeigt. Dieses Photo habe ich hier eingefügt.

22 22. April 1930 Verlobung der ältesten Tochter Marion Bock mit Dr. Georg Sehmsdorf

23 folgender Text von Marion Sehmsdorf: In vielen Berichten unserer Eltern Georg und Marion S e h m s d o r f taucht der Begriff Vetter Georg auf und das bedeutet, daß sie miteinander verwandt waren. W i e - das hat mir unser Vater erklärt - aber als junger Mensch hat man das Leben - die Zukunft - noch vor sich - da interessieren einen die Ahnen und vergangene Zeiten nicht. Jetzt, wo wir die Älteren sind und eine große Schar an Jugendlichen und Kindern nach wachsen, schauen W i r zurück auf unsere Väter und Mütter - auf deren Leben - auf ihre Zeit -auf ihre Träume - auf ihre Probleme - auf ihren Lebenskampf. Wieviel Anlagen und Begabungen sind da zu entdecken - wieviel Kultur und Wissen war da vorhanden - und wieviel hat sich weiter vererbt an : Musik, Dichtkunst, Malerei, pädagogischen Geschick - an kaufmännischer Begabung. Beim Arbeiten am Lebenslauf unserer Großmutter Marie Bock, geb.Lemke - habe ich den verwandtschaftlichen Faden gefunden und schreibe ihn nun für die nächste Generation auf. Soviel G e n e sind da und werden weitergegeben und tauchen in neuen Leben auf. In Gottes Schöpfungsordnung geht nichts verloren.

Daniel Friedrich S e h m s d o r f, (geb.4.5.1746, gest. 19.8.1824) war Gutsbesitzer in Züsedom (Uckermark) und hatte mit seiner 3. Frau Marie Zachert ( geb.1769 in Pasewalk ) zwei Kinder: Tochter Augustine (geb.21.8.1802, gest. 18.10.1855), Sohn Julius ( geb. 11.7.1811, gest. 1.2.1900)

Augustine war verheiratet mit Gustav Lemke, Julius wurde Gutsbesitzer in Podanin (Posen). Georg Friedrich Lemke (geb.13.9.1838 in Pasewalk, gest.30.12.1897 in Dresden) war ein Sohn der Augustine. Er war Kaufmann in Königsberg und verheiratet mit Marie, geb. Eckhardt, (geb. 26.5.1848, gest. 30.1.1937 in Königsberg). Georg Friedrich Lemke hatte 4 Söhne: Alexander, Walter, Georg und Hermann und 3 Töchter: Marie, Ottilie und Elisabeth. Marie Lemke heiratet 1904 Wilhelm Bock - sie hatten 5 Kinder; Marion, Hildegard, Hans-Georg, Christel und Käthe.

Julius Sehmsdorf war verheiratet mit Mathilde Vanselow. (s. Bild zur Goldenen Hochzeit) Sie hatten viele Kinder. Ein Sohn, Georg, war Getreidehändler in Berlin und verheiratet mit der Sanitätsrattochter Meta Ring, ihre zwei Kinder waren: der Sohn Erich und die Tochter Käthe. Erich war verheiratet mit der Kaufmannstochter Erna Mattern. Sie hatten 7 Kinder: Georg, Kurt-Eberhard, Wolfgang, Charlotte, Otto, Fritz und Joachim. Georg Sehmsdorf heiratete 1931 Marion Bock. So haben Dr. Georg und Marion Sehmsdorf, geb. Bock, dieselben Ur-Ur-Großeltern! (Quelle: http://www.aratoga.de/100/genealogie.html)

24 Ostseebad Cranz, heute Zelenogradsk

25 Elisabeth Auguste Lemke geb. 17.9.1884 Königsberg gest. 8.11.1965 Pyrmont verh. 13.2.1911 Königsberg mit Fritz Rudolf Jankowsky, (Dr.phil.), Schulrat in Königsberg/Pr. geb. 22.2.1877 Eggleningken/Ostpr. gest. 11.6.1941 Bad Pyrmont

26 Marie Margarete „Marion“ Sehmsdorf * 03.04.1906 Tilsit † 10.09.2000 Stein / Deutenbach

27 Mark

28 Das Bild ist im Manuskript eingeklebt

29 1907 beginnt Wilhelm Bock, Ehemann von Marie Adelgitha Bock, geb. Lemke, seinen Dienst an der Herzog -Albrecht-Schule in Rastenburg und übernimmt zugleich die Leitung des Evangelischen Schülerheimes , die er 1914 gesundheitlich angegriffen abgeben musste.

30 Verbleib unbekannt

31 Genslack, Kreis Wehlau, Ostpreussen [frühere Besitzer des Gutes Genslack: v.Hülsen, v.Gaudy, v.Reichmeister, v.Bolschwing, v.Heyking, Grafen v.Klinkowstroem, v.Marées] (Quelle: http://home.foni.net/~adelsforschung1/sitz09.htm)



 

 

 

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