Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

Genslack



Genslack (Quelle: Sammlung Duncker)


Skizze zu Genslack von Marie Lemke, 1890


Skizze zu Genslack von Marie Lemke, 1890

Skizze zu Genslack von Marie Lemke, 1890


Im Jahr darauf erschloß sich uns, mir und meinen 2 Schwestern unser Kindheitsparadies: Genslack73. Das Glück begann in den Himbeersträuchern. Ich sehe den vornehmen dunklen Herrn deutlich vor mir, wie er mit seinen langen schmalen Fingern die großen Himbeeren pflückte und uns zureichte. Das hatten wir noch nie erlebt. Die Tragik, die dahinter stand, ahnten wir freilich nicht. Jener Herr war der Besitzer von dem adligen Rittergut Genslack. Dies Gut lag zwischen Groß Lindenau und Tapiau. Herr von Marées hatte eine sehr reiche Frau geheiratet, eine geborene Moneta. Daraufhin hatte er sein Gut neu gestaltet und wundervolle Ställe gebaut. Beim ersten Kindbett lag die Frau im Sterben. Meine Mutter hatte uns in ihrer anschaulichen Art erzählt, daß wir Kinder es nie vergessen haben - Ärzte und Rechtsanwälte saßen am Wochenbett der jungen Mutter und an der Wiege des schwächlichen Kindes. Wird die Mutter noch zum Bewußtsein kommen, um ihren letzten Willen kund zu tun und ihrem Mann ihr Vermögen zu vermachen oder wird das Kind wenigstens um Sekunden die Mutter überleben, damit (der Vater) das Kind die Mutter und der Vater sein Kind beerben könnte. Dann war Herr von Marées gerettet. Keines von beidem geschah. Das Kind starb vor der Mutter und die junge Frau kam nicht mehr dazu, ihren Willen kundzutun. Herr von Marées blieb zurück ohne Frau, ohne Kind, ohne Geld. Die Schuldenlast war riesengroß. An jenem Himbeertag hatten uns die Eltern wohl mit aufs Land genommen, als mein Vater helfen wollte, die Lage zu ordnen und zu helfen. Später hörte ich, Herr von Marées sei noch bei meinem Vater im Comptoir gewesen, eine Stunde darauf hatte er sich erschossen. Ich war damals noch nicht 10 Jahre und dies Schicksal hat mich so erschüttert, daß es bis heute in meiner Seele weiterlebt. Leider habe ich daraus nicht gelernt, bei meinen eigenen Kindern eine gleiche tiefe und seelische Empfindsamkeit in diesem Alter vorauszusetzen. Manchen Schmerz, manches spätere Mißverstehen, hätte ich ihnen und mir erspart.74

Genslack, das Gut wurde verkauft, an einen einfachen Gutsbesitzer, Herrn Müller, die Ziegelei wurde unter der Hand meines Vaters zu einem Aktienunternehmen, in das er sein erspartes Vermögen, etwa 100,000 M. hineinsteckte. Er hatte in Königsberg die Entwicklung der Stadt nach den Hufen vorausgesehen, hatte dort Terrain kaufen wollen, wurde aber nicht herangelassen und suchte nun diesen Weg zur Entfaltung seiner kaufmännischen Ideen. In Genslack war an das Gutshaus ein Anbau gemacht worden, den mieteten wir uns, statteten ihn als Landhaus aus. Es waren wohl 7 Zimmer in der I. ten Etage und eine große Küche und Mädchenzimmer und Nebengelaß im Erdgeschoss.

Hier konnte meine Mutter ihr großes Organisationstalent entfalten. Schlichte Möbel, bewußt schlichtes Geschirr und einfache Einrichtung gaben dem Ganzen den leichten Charakter, der zur Sommerfrische gehört. Einige dieser schlichten Möbel leben noch heute - ich bin 40 Jahre verheiratet - in meiner Wohnung. So war es auch nur möglich, daß meine Mutter so viele Gäste bei sich sehen konnte. Ein Bild in der anliegenden Mappe75 zeigt den Besuch, uns alle und auch die Amalie, die alte Anna (Köchin) und die Rose. Vor dem Hause war ein großer Tisch unter einem Fliederbaum, dahinter für Regentage auch ein Zelt. Ein riesengroßer Park mit 2 langen Laubengängen schloß sich an das Gutshaus an, etwas abseits neben dem Inspektorhaus waren noch ein Riesenpark mit großen Abhängen und Schluchten geteilt in zwei Teile durch die Eisenbahn. Ein großer Pavillon gab Gelegenheit zum Ruhen und zum Beobachten der Züge. Wie manchen D-Zug haben wir dort vorbeirasen sehen, wie manchen Pfennig platt drücken lassen.


Genslack (Quelle: Internet)


Dahinter kamen nach echter Wildniss die Pregelwiesen mit unserm Tennisplatz und dem still dahinfließenden Pregel mit seinen Dampfern, den litauischen Flößen und Kartoffelkähnen. Wie haben wir diese Wildniss durchstreift, bewaffnet mit Bogen und Pfeilen, Säbel, Gewehr und Riesenstangen. Ich schoß damals so gut, daß ich Äpfel vom Baum schoß und mit den langen Stäben setzte ich die tiefen Abhänge hinunter, wohl 5-6 Meter dabei in der Luft schwebend. Im Herbst waren die Apfelbäume und die großen Strohhaufen die Hauptanziehungspunkte. Kein Baum war zu schwierig zu erklettern, kein Strohhaufen zu hoch zum Hinunterstürzen oder Springen. Oft übertraf ich meine Brüder. Unmittelbar am Haus war der Kroquetplatz. Ein schönes Spiel; ich habe es mit Leidenschaft gespielt und bis zur Virtuosität darin gebracht; das ging soweit, das keiner mehr mit mir spielen wollte. Kam an mich die Reihe, dann nahm ich mir eine Kugel mit und holte mir von ihr immer wieder neue Schläge, daß den andern Spielern nichts übrig blieb, als zuzusehen, bis ich durch das letzte Tor und an den Pfahl rannte. Es blieb mir daher nichts übrig, als mit der linken Hand zu spielen. Leider stand ich dann aber um 5 Uhr auf und übte so lange, bis ich es zur gleichen Virtuosität gebracht hatte und damit wieder ein unliebsamer Partner wurde. Manch ein Streit entspann sich dabei freilich auch. Aus jener Zeit stammt das berühmte Wort von Onkel Paul, das meine Mutter noch im späten Alter zitierte: „Es ist doch ganz gleich ob die Kugel durchs Tor geht oder daneben.“ Heute habe ich Onkel Paul weit überholt in der Auffassung, was wichtig und unwesentlich ist, aber gerade die Unbedingtheit und unser Eifer gaben damals dem Spiel seinen Reiz und möchte ich hinzufügen, dem Leben überhaupt.

 


 

73 Provinz Preussen, Regierungsbezirk Königsburg, Kreis Wehlau: Das adlige Gut Genslack im Kreise Wehlau am Pregel belegen und durchschnitten von der Königlichen Ostbahn, besteht aus dem Hauptgute Genslack mit den Vorwerken Oberwalde, Paulinenhof und Waldhaus, der großen Ziegelei Zimmau und der Wassermühle Zimmau. Im Ganzen umfasst es ein Areal von 3200 Morgen, wovon 300 Morgen beste Pregelwiesen. Im Jahre 1616 vertauschte Salomon von Hüllsen sein Gut Schönbaum im Amte Tapiau gegen eine gleich grosse Fläche in Genslacken, welche demselben auf Befehl des Herzogs Johann Sigismund dort angewiesen wurde. Später kam Genslack in den Besitz der Familie von Reichmeister, dann durch Heirath an B. von Gaudy. Nach dessen Tode wurde von Bolschwing Besitzer, der die königliche Ziegelei Zimmau dem Gute erwarb. 1821 kaufte Genslack Baron von Heyking und vereinigte mit demselben das Gut Oberwalde. 1838 kam es in den Besitz des Grafen Klinkowstroem, von dem es 1841 der jetzige Besitzer, Amtsrath Friedrich von Maröes kaufte. Letzterer hat das früher bedeutend kleinere Gut durch Zukauf der Mühle Zimmau und der sämmtlichen noch vorhandenen Bauernländereien, vergrössert und arrondirt, so wie fast alle Gebäude neu aufgeführt. Dem Besitzer gehören ausserdem noch die Güter Althof Skirbs im Kreise Niederung und Elisenau im Kreise Domnau. (Quelle: Sammlung Alexander Duncker (1813-1897) (Quelle: http://www.zlb.de/aktivitaeten/digitalisierung/duncker)

74 Anmerkung Marion Sehmsdorf: Liebe gute Mutter

75 Verbleib unbekannt



 

 

 

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