Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Die Heimkehr


Es ist nichts, als das Streben nach einem bestimmten Ziel, was das Leben erträglich macht.247


Am 14 Juli machten wir noch einen herrlichen Ausflug mit der deutschen Gesellschaft nach Hoorn – eine sehr hübsche Aufnahme auf der Zuider See248 existiert davon – und dann am 15. Juli hieß es Abschied nehmen. „Dumm´s Ding, was reist du!“ sagte Martha auf dem Weg zur Bahn. Und sie hatte Recht. Aus Pflichtgefühl, Erkenntnistrieb und Arbeitseifer stürzte ich mich in das alte enge Strombett und schlug mir selbst die so weit geöffneten Tore zur großen Welt und zu den Herzen liebender Menschen zu. Ich hätte abwarten, die angebahnte Entwicklung ausreifen lassen sollen! Es war eine zweite Sternstunde. - - -

Ich fuhr den Rhein stromaufwärts bis Bibrich. In Wiesbaden bei Tante Ottilie und Onkel Goerke – „Onkel Anstand“ nannten wir Kinder ihn – traf ich meine Mutter mit Ottilie. Zwei Erbschaften hatten den Geldmangel behoben und als etwas Vorübergehendes erscheinen lassen249 -3000 M. von Tante Elise und 7000 M von Banshav – darum hatte meine Mutter sich aufgerafft und aufgemacht. Grenzenlos hatte ich mich auf das Wiedersehen gefreut, denn wir waren uns durch den Briefwechsel sehr nahe gekommen, - aber ach! – es ging mir, wie nach der Pension in Berlin, - dies Mal war der Schuldige ein schiefer Absatz. Gott weiß, wie ich dazu gekommen bin, nie in meinem Leben hatte ich vorher oder nachher einen schiefen Absatz gehabt. Kurzum, meine Mutter hatte offenbar erwartet, daß ich verlobt zurückkäme und hielt nun den Absatz für das, „corpus delicti“. Kein Papa war da, mich in Schutz zu nehmen. Nach der frischen Nordseeluft bekam mir die flaue Luft in Wiesbaden gar nicht; so kam zu dem seelischen Druck das körperliche Unbehagen, und kurzerhand entschloß ich mich, nach Königsberg zu fahren. In Berlin noch ein anregendes Zusammensein mit Tante Marie, der „Ewigjungen“, ein letztes Wiedersehen mit den Amerikanern, mit Elisabeth in Prenzlau und Schirmershof250 (Onkel Gustavs Gut) und überall von Verwandten liebevoll umsorgt und umgeben! Wie fest der Boden, auf dem ich stand! Aber ich strebte nach „dem Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllte.“ 251 Freudig grüßte ich nach einer angenehmen Nachtfahrt die Türme von Königsberg den herrlichen Sonnenaufgang nahm ich als gutes Vorzeichen.

Als neuer Mensch zog ich an jenem sonnigen Julimorgen in meine Vaterstadt ein, die ich unzufrieden und verzagt im Winter bei Nacht und Kälte verlassen hatte. Die Verhältnisse waren dieselben geblieben -, selbst Hüters Stimme drang vom unteren Stockwerk (Eckhardts) zu mir herauf, - aber sie zwangen mich nicht in ihren Bann; die Kraft und die innere Selbstständigkeit, die ich drüben erlangt hatte verhalfen mir meinen Lieblingsplan durchzuführen: ich wollte das Abitur machen und studieren. In Königsberg waren nach dem Vorbild von Berlin und Breslau „Gymnasialkurse für Frauen und Mädchen“ eingerichtet worden, der erste Kursus, 4 Mädchen, hatte Abitur gemacht, zwei neue Kurse liefen; zu beiden hatte ich mich gemeldet, hatte mich aber wieder abmelden müssen, denn es galt für unweiblich. „Dann kriegst Du vollends keinen Mann“ meinte meine Mutter. Die Kurse führten in 4 Jahren zur Reife, der letzte lief schon 2 Jahre. Was nun? Ich ging zu Prof. Baske, dem Leiter der Kurse. Er unterhielt sich lange Zeit mit mir; eine neuer Kursus konnte nicht eingerichtet werden, das Geld fehlte, ein großer Bazar im Winter sollte erst die Fortführung der beiden laufenden ermöglichen. Dann plötzlich: „Lernen Sie leicht Vokabeln?“ Ich konnte bejahen; „Ich nehme Sie in den laufenden Kursus auf; holen Sie das Fehlende privatim nach!“ Nach einem fröhlichen „a rivederci“ eilte ich die Treppe herunter. Nicht oft in meinem Leben bin ich so glücklich gewesen.

Noch war ich allein. Meine Mutter mit Tilusch252 wurde erst Ende August erwartet; da mußten alle Hindernisse weggeräumt, alle Wege geebnet sein! Zuerst zur Hochschule von Frl. Doennig, die Mama sollte nicht sagen können: „Lerne erst kochen!“ gute Grundkenntnisse hatte ich ja auf meinen Reisen erworben; dann zu Herrn Reimann wegen der Klavierstunden und 2 Stunden üben am Tage, denn Klavierspielen mußte neben kochen, nähen, malen eine höhere Tochter können, natürlich als Dilettant, wie alles Andere; trotzdem ich nicht besonders musikalisch war, verband meine Mutter später mit ihrer Erlaubnis für die Kurse die Bedingung, daß ich täglich 2 Stunden übe; selbst mein weitschauender Vater wollte nicht, daß ich Lehrerin würde, denn ein vermögendes Mädchen dürfe den ärmeren nicht das Brot wegnehmen, aber an Geschichte und Geographie im Seminar sollten wir noch teilnehmen. „Für´s Lernen kann es nicht genug kosten“, sagte er noch auf dem Krankenbette. „Bildung“ nicht „Berufsausbildung“ wünschte er sich für seine „drei lieblichen Töchter“; er, der Verehrer aller ursprünglichen Weiblichkeit, wollte seinen Töchtern jene unverbildete geistige und seelische Freiheit erhalten, die ihn bei seiner Frau, der munteren Schwäbin, so entzückte. Einen Beruf als Erwerbsquelle brauchten sie ja nicht. Die Zeit und das persönliche Schicksal sollten eine härtere Sprache sprechen. Sicher hätte er sich aber gefreut über seine 3 Abiturientinnen und gar die 2 Dr. Hüte und hätte dann auch erkannt, daß Beruf und geistige Durchbildung nicht unbedingt die Weiblichkeit zerstören müssen.

Aber von diesen Zielen und Problemen war ich in jenem Herbst kaum berührt, was mich beschwingte und was nach Entfaltung strebte mit geradezu elementarer Gewalt war mein ganz persönlicher Erkenntnistrieb, der Kampf spielte sich allein in meiner Seele und mit meiner Seele ab; daß ich in dem großen Zeitstrom der Frauenbewegung schwamm und von ihm mächtig getragen wurde, trat mir nicht deutlich ins Bewusstsein.

253Klavierspielen das gehörte unbedingt in das Bildungsprogramm einer höheren Tochter fin du siècle. Das schöne Kleid aus weißer Seide verarbeitet von der „Mummet“, der besten Directrice Königsbergs, dazu der Ruf unseres Vermögens, die gepflegten Gesellschaften auf dem Lizent – das Bild der „höheren Tochter“ war fertig, ja, aber noch lange nicht das Bild der bescheidenen, schlichten College Schülerin, wie ich es von New York mitgebracht hatte.

Latein, Griechisch, Mathematik?

Für Latein brachte ich von Dr. Hoffmann lückenhafte Anfängerkenntnisse und große Passion mit, für Griechisch nahm mich Dr. Prellwitz als Schülerin an. Er war ein ganz eigenständiger Mann, all sein Tun war beseelt, und so war auch sein Unterricht. Wir begannen mit den ersten Sätzen des Evang. Johannis, jedes Hauptwort, jedes Verbum etc. wurde in seinen gram. Kategorien besprochen; am Schluß hieß es: „Prägen Sie sich das Besprochene gut ein, lernen Sie die ersten Sätze auswendig und dann kommen Sie wieder.“ Das hieß den Erfolg in meine Hand legen. Beflügelt eilte ich heim, er hatte damals schon sein etymologisches Wörterbuch herausgegeben und in ihm lebte die griechische Sprache. Das teilte sich mir mit und machte die Sprache durchsichtig und ihr Erlernen leicht.

Inzwischen war es Herbst geworden und meine Mutter heimgekehrt; sie hatte ihre alte Freundin seit der Strickschule Olga Büchler mitgebracht, die als alte Schwäbin für Mädchenbildung und „Kriechisch“ schwärmte. Sie gewann die Mama für meinen Plan – vielleicht hatte sie auch das Vorgefühl der dunklen geschäftlichen Lage schon umgestimmt – kurzum, auch dies Hindernis war genommen und die Bahn für meine Wünsche frei. Hüter machte in diesem Winter mit einem reichen Mädchen Hochzeit. Die Glocken der Luisenkirche läuteten, als ich die Bahnstrasse entlang zu den Kursen auf dem Roßgarten ging; ich lief vor Wonne und schlenkerte meine Büchermappe in dem Glücksgefühl meiner Freiheit und meiner geistigen Kräfte. Ich arbeitete schon energisch in meiner Klasse – wir waren 4 Mädchen – mit. In Latein übertrug ich, mit Hilfe stenographischer Notizen aus der Stunde, die Pompeiana schriftlich ins Deutsche und lernte den lateinischen Text auswendig, in Griechisch, besonders Homer lib VI, machte ich es ähnlich, nur lernte ich den deutschen Text auswendig. So schwindelte ich mich gleichsam durch die Stunden hindurch, bis Dr. Schneider auf den Gedanken kam, mich zu prüfen. Ich war inzwischen schon 3 x bei Prellwitz gewesen und beherrschte die Verba auf „ui“ und die geläufigsten sogenannten unregelmäßigen Verba in dem Maße, daß Prellwitz seine Freude daran hatte, daß er mich nicht „reinlegen“ konnte. Ich habe mein ganzes Leben die gr. Verba geliebt und Liebe für sie geweckt. Ich beantwortete alle Fragen; wie es kam ist mir unklar geblieben. Er war zufrieden, nur die Hexameter sollte ich noch üben. Dann fragte er nach meiner Vorbereitung. Da machte ich eine große Dummheit. Wer? Wie lange? „Dr. Prellwitz, 3 Stunden“ sagte ich voll Stolz auf meinen genialen Lehrer. Staunen! „Welches Übungsbuch?“ „das Neue Testament.“ Da nahm er, starr, Kaegi I vor und deutete auf das Motto „Τ? κ??ω?ιη ??γυε?τατ ετιυαιδετ“. Diese Prüfung mit dem Ergebnis hat er mir nie verziehen. Als ich die erste Klassenarbeit, aus Henophon, „genügend“ schrieb, aber Π??αυ nicht gewusst hatte, sagte er: „ja Fräulein Lemke. Das lernt man nicht in 3 Stunden und nicht im Neuen Testament“. Es half nichts, daß ich „Π??αυτο?-nou“ einwarf, diese Worte blieben sein „ceterum censeo254 solange er bei uns griechisch gab; am Anfang der Stunde legte er mir eine kniffelige Frage vor, dann kam sein „ceterum censeo“ und dann begann er mit „Also Frl. Salecker255 den eigentlichen Unterricht. Ich blieb aber auf den Wunsch von Dr. Prellwitz in der Klasse – 10 x war ich bei ihm – und als Ostern 1903 Dr. Glogau den griechischen Unterricht übernahm und gleich mit der Lektüre des Ilias und Plato Apologie begann, war ich nachgekommen und schöpfte täglich neue Kraft aus der griechischen Lektüre. Oft saß ich im Turmzimmer auf dem Fensterkopf und ließ die homerischen Hexameter an meinen Ohren erklingen oder lauschte einem Wort des Johannes oder Platos. Getragen auf ihren Schwingen und beflügelt durch das Vertrauen auf meine Geisteskräfte hatte ich den Winter 1902/3 ohne seelischen Schaden verbracht und er war hart gewesen, sehr hart.256


Zuerst stellte ich fest, wie weit mein Wissen in Latein und Griechisch gekommen war. Die rein grammatische Schulung war abgeschlossen, auch Caesar, Cicero, „De Imperio Gn. Pomp.“ sollte gelesen werden, Griechisch die Anabasis und Homer, Od VI. Ich hatte durch meinen geliebten Lehrer in der Hasenkampschen Töchterschule später in einem Lateinkursus, Dr. Hoffmann, die große Begeisterung für die Antike bekommen, hatte ein paar Seiten „Caesar“ gelesen, Ovid „das Leben“, den „Abschied von Rom“ und „Niobe“. Der Eindruck ist unvergesslich geblieben. Noch heute höre ich seine sonore Stimme: „Maior sum quam cui possit fortuna nocere.“ Im übrigen schrieben wir, meine Schwestern nahmen auch teil, über seinen Unterricht „doch ach, es wankt der Grund, auf dem wir bauten257.“ In dem griechischen Kursus Hoffmanns hatte ich nur 3 x teilgenommen; die Reise nach Paris und New York hatte alles unterbrochen. Griechisch wollte ich zuerst in Angriff nehmen.

Ich ging zu dem mit uns befreundeten Graecisten Dr. Prellwitz, er hatte schon ein etymologisches Wörterbuch258 herausgegeben und war damals Hilfsarbeiter am P.S.K.. Er interessierte sich für mich und legte mir das „Novum Testamentum Graece259 vor. Wir lasen 6 Zeilen des Ev. Joh. und besprachen die grammatische Seite jedes Wortes. „Lernen Sie diese Zeilen auswendig und kommen Sie wieder, wenn Sie den Stoff beherrschen.“ Das war eine neue Methode, aber sie war meinem Lerneifer und meinen Finanzen angemessen. Nach drei Wochen war ich soweit und nach abermals 3 Wochen beherrschte ich die gesamte Deklination, die regelmäßige Coniugation und absolut sicher eine Menge der gangbarsten Vokabeln. Als ich das Pensum der dritten Stunde verarbeitet hatte, waren mir auch die Verba auf „ui“ und ein Teil der unregelmäßigen geläufig.

Immer häufiger waren die Hiobsbotschaften gekommen, immer größer waren die Summen, die auf das Verlustkonto geschrieben wurden, immer dreister die Gläubiger, immer unsicherer wurde unser langjähriger Prokurist Müller und mein ältester Bruder Alexander, der noch in diesem Augenblick Prokura übernommen hatte, immer unheimlicher und beängstigender unsere Lage. Meine Mutter verlor immer noch nicht das Vertrauen zu Müller – als ich sie warnte hieß es „du sprichst im Wahn“ – und doch lag auf ihr die ganze Verantwortung für 6 unmündige Kinder, denn sie war Inhaber des Geschäfts und Vormund und Gegenvormund zugleich, da der langjährige Freund meiner Eltern Consul Theodor schon 3 Monate vor meinem Vater gestorben war. Zu all diesen Sorgen hatte die „Mama“, die ich sonst nie krank gesehen hatte, in jenem Winter eine schwere Ischias und lag 6 Wochen zu Bett. Treu und unverzagt aber sorgte unsere Amalie für uns alle. Unsere gescheidte Jüngste, die „Goldene“ hatte schon das Sprachexamen gemacht und war Erzieherin auf dem Lande bei von Perband Langendorf 260 und arbeitete mit solchem Geschick und Takt, daß sie ihr ganzes Leben mit jenen wertvollen Menschen in Freundschaft verbunden blieb.

261Hermann war krank aus Paris zurückgekommen und diente bei der Artillerie, Walter stand in Coethen vor einem technischen Examen, Georg war noch in Paris bei Onkel Hermann im Geschäft tätig Rue Turgot. Alexander hatte noch im letzten Moment bei „Georg Friedrich Lemke262“ Prokura übernommen und ich sah und hörte nichts um mich herum, sondern schwamm förmlich in den neu erworbenen Geisteswissenschaften, die mir eine neue Welt erschlossen. Jeden Nachmittag um ½ 2 trabte ich glücklich in die Königin Luise Schule263. Prof. Baske hatte mich einmal gefragt: „Haben Sie schon einen tüchtigen Vokabelschatz?“ und als ich mich Recht bejahte, sagte er: „Dann machen Sie das Abitur im nächsten Herbst/ 1903 ganz bestimmt.“ Ich war noch zuversichtlicher als er, denn ich fragte nach dem Endziel überhaupt nicht, der Weg dorthin beglückte und erfüllte mich schon ganz; dabei hatte ich mich an das gewaltige Gebiet der Mathematik noch nicht gewagt und wusste doch, daß „rechnen“ auf der Töchterschule als einziges Fach mir Schwierigkeiten gemacht und um den ersten Platz in der Rangordnung gebracht hatte. 264Meine Mutter hatte dieses Manko als ein gegebenes, unabänderliches hingenommen und mir damit die Triebkräfte zur Überwindung dieser Schwäche von vornherein unterbunden. „Du bist für Mathematik halt nicht begabt“ sagte sie, wenn mein Bruder Walter sich vergeblich mühte mir die Anfangsgründe der 4 Spezies beizubringen; und ich glaubte es. Ich sah mich nach einem geeigneten Lehrer um und verzagte nicht. Dr. Gaßner! Aber woher das Geld nehmen? 4 M. die Stunde! Da half mir ungebeten mein treuer Freund in Amsterdam und schickte mir 3 x 100 M.. Anfangs hatte er mir abgeraten: „Etwas anderes suche zu beginnen des Zeus wunderbare Tochter!“ jetzt aber ließ er mich nicht im Stich; und das Geld brachte mir Segen!

265Bald wurde Mathematik mein liebstes Fach. In 30 Stunden hatte ich das Riesenpensum erledigt und beherrschte es vollkommen; denn alle Aufgaben, die Dr. G. durchgesprochen hatte, machte ich mir zum geistigen Besitztum durch peinlich sorgfältige Ausarbeitung nebst Zeichnung in meinem Math. Heft; ehe ich mir nicht alles angeeignet hatte, holte ich mir nicht neue Nahrung; jede Formel, jeder noch so lange Satz sinus, cos. tg. etc. saß unbedingt sicher fest. Prof. Noske traute sich das nicht zu. Worauf beruhte dies treue Gedächtnis? 266Gemeinhin sagte man: „repetitio est mater sapientiae267 aber nur die Wiederholung d. h. das Einprägen einer klaren, sicheren Erkenntnis bringt diesen Segen. Daher ist die „prima conceptio268“ entscheidend; ist diese falsch oder unklar wird die rep. zum Fluch, und nur ein völliges Ausradieren kann ein solch belastetes Gedächtnis retten; es gleicht einer zerkratzten Grammophonplatte. 3 Vokabeln fest eingeprägt sind wertvoller als 30, die der Schüler sich 30 x „angesehen“ hat. Mein Kopf war für Mathematik eine unbeschriebene Platte, eine „tabula rasa269, aber ebenso im Griechischen und in Latein schleppte ich lange viel Unverstandenes mit, und Dr. Obrikatis sagte dann mit seinem liebenswürdigen Lächeln: „Ja, Fräulein Lemke, das ist ihr alter Wahn.“ Die Pompeiana übertrug ich regelmäßig ins Deutsche und retrovertierte ins Lateinische. Ich fühlte mich von Tag zu Tag sicherer. Dr. Obrikatis gratulierte mir noch zur Verlobung und fiel im ersten Weltkrieg als freiwilliger Landstürmer. Ave pia anima270!

Der Einzige, der mir den ganzen Winter 1902/3 über nicht wohl wollte, blieb Dr. Schneider. Die erste Arbeit schrieb ich III (Anab); pe/ran hatte ich nicht gewusst. Das nahm Schneider wieder zum Anlaß für sein „ceterum censeo“ „Das lernt man nicht in drei Stunden und auch nicht im neuen Testament.271 Ich warf zur Ehrenrettung meines griechischen Lehrers ein „Oh doch, pe/ran tou= )lorda/nou272 Ev. Joh. Cap I 28“, und verdarb es dadurch vollends mit ihm.

Das störte mich aber durchaus nicht, die Kenntnisse, die ich durch meine hervorragenden Lehrer erworben hatte, waren groß; ihre Methode war meinem Wesen, meinen Gaben, meinem Alter angepasst. Das kategorische Urteil „nicht begabt für“ hatte seinen Sinn im Bereich der Schule verloren, und das alte Wort „repetitio etc.“ hatte ein neues Objekt bekommen und wir in den Kursen zwei neue Lehrer!

Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,
der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
und bei des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen
273.

Die Osterferien waren zurück. Ein wonniges Wetter. Die ganze Welt atmete den Frühling aus, die feuchte warme Luft die ich so liebte. Ich – im eleganten Garbadin-Kleid auf weißer raschelnder Taftseide mit Schleppe!! Wanderte selig, übermütig zum Beginn der Kurse zum Altstädt. Gmnasium in Begleitung meines Vetters (2. Grades) Erich Sehmsdorf. Er hatte seine Verlobung in Berlin gelöst und sich nach Königsberg versetzen lassen; ein gescheiter Mensch, aber ein Original. Meines Vaters Mutter war eine Sehmsdorf und der Name hatte bei uns einen guten Klang und sollte noch eine Rolle in meinem Leben spielen, aber davon ahnte ich an jenem Frühlingstag noch nichts.

274Dr. Globau machte gleich den Sprung von Anab und Odyss. IX zur Apologie und Ilias; bei ihm bekam der griechische Unterricht Schwung. – und deutsch? Ein großer, schlanker junger Mann tritt ins Klassenzimmer. 275Schwarzer eng anliegender Schwalbenschwanz, gewelltes blondes Haar, ein Gesicht wie ein mittelalterlicher Holzschnitt, so stand Dr. Bock276 vor uns und gab uns in seinem mitteldeutschen an-277

 


 

247 1801 schreibt Friedrich Schiller dem vertrauten Freund Körner nach Dresden: Es ist nichts, als die Tätigkeit nach einem bestimmten Ziel, was das Leben erträglich macht.

248 Das Ijsselmeer hieß vor seiner Eindeichung die Zuider See

249 Handschriftliche Ergänzung von Marie Bock: 11. Sept 49

250 Bei Potsdam

251 Zitat aus Prometheus von Johann Wolfgang Goethe : … Prometheus: Der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt! / Nichts drunter und nichts drüber! – / Was haben diese Sterne droben / Für ein Recht an mich, / Daß sie mich begaffen?

252 Schwester Ottilie

253 Hier beginnt ein Einschub auf nachträglich erstellten Manuskriptseiten. Der Einschub wird inhaltlich durch Passagen der folgenden Abschnitte wiederholt.

254 Ceterum censeo (lateinisch Im Übrigen bin ich der Meinung) ist ein bekannter Ausspruch, der dem römischen Senator Cato Censorius zugeschrieben wird, mit dem er in der Zeit vor Beginn des Dritten Punischen Krieges am Ende jeder Senatssitzung (unter dem Punkt Ceterum ‚Verschiedenes‘) die Zerstörung Karthagos forderte – bis der Senat dem endlich zustimmte. Im Zuge des Dritten Punischen Krieges wurde die Hauptstadt der Weltmacht Karthago bis auf die Grundmauern geschleift und stieg nie wieder zu alter Macht und Größe auf. In Anlehnung an den angeblich historischen Ausspruch spricht man heute von einem Ceterum Censeo, wenn eine Forderung beharrlich wiederholt wird. Und fragt man jemanden nach seinem Ceterum Censeo, so ist damit in Analogie zu Catos Ausspruch ein zentrales Anliegen oder ein wichtiges Ziel in dessen Leben gemeint.

255 Mit „Frl. Salecker“ ist vermutlich eine Mitschülerin gemeint. Sollte es so sein, könnte es sich um Charlotte Dorothea Henriette Riebes (geb. Salecker) handeln, was sich im Internet recherchieren ließ. Zu Ihrem Lebenslauf: Ausbildung und Schule: Besuch der höheren Mädchenschule in Elbing/Westpreußen. Wechsel zu den Gymnasialkursen für Frauen in Königsber/Pr., hier im Herbst 1904 am Königl. Wilhelmsgymnasium die Reifeprüfung bestanden (Quelle: Internet). Marie Bock machte am ihr Abitur am 9 September 1904.

256 Hier endet der Einschub

257 Friedrich Schiller Wilhelm Tell.

258 Prellwitz, Walther: Etymologisches Wörterbuch der griechischen Sprache, Göttingen 1892

259 Als Novum Testamentum Graece bezeichnet man die griechische Version des Neuen Testamentes.

260 Gemeint ist wahrscheinlich die Familie des Gutsbesitzers Albrecht von Perbandt in Wehlau. Es existieren hierzu niedergeschriebene Erinnerungen von Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke, der Schwester von Marie Bock. Diese Unterlagen sowie Bilder hierzu befinden sich bei Jost Schaper, Bad Pyrmont.

261 Handschriftliche Ergänzung von Marie Bock: 17. Mai 51

262 Gemeint ist die Firma Georg Friedrich Lemke, Berg-& Hütten Producte, Telegramm Adresse Lemkart-Königsberg Pr. Kneiphofsche Hofgasse 1

263 Heute die Schule Nr. 41 in Kaliningrad / Russland. Die ehem. Königin-Luise-Schule (Landhofmeisterstraße/ Glaserstrasse) entstand 1901. Besuch eines vierjährigen Kurses auf der „realgymnasialen Studienanstalt in der Königin Luise Schule.

264 Handschriftliche Ergänzung der Verfassern: 17. Juli 51

265 Handschriftliche Ergänzung der Verfassern: 18. VII 51

266 Handschriftliche Ergänzung der Verfassern: 3. VIII 51

267 Wiederholung ist die Mutter der Weisheit

268 Erste Aufnahme

269Tabula rasa (lat. wörtlich Abgeschabte Schreibtafel) bedeutet eigentlich: unbeschriebene Tafel (auch: unbeschriebenes Blatt, leere Tafel). Hiermit wurde im übertragenen Sinne die Seele (als vermeintlicher Ort der Erkenntnis der Menschen) in ihrem ursprünglichen Zustand, d.h. bevor sie Eindrücke von der Außenwelt empfing, bezeichnet. Im konkreten Sinne war tabula rasa in der Antike eine wachsüberzogene Schreibtafel, auf der nach dem Beschreiben die Schrift wieder vollständig entfernt werden konnte.

270 Lebe wohl, fromme Seele

271 Handschriftliche Ergänzung der Verfassern: 7. VIII

272 Diese Passage wurde von der Abschrift von Anke-Dorothee Sehmsdorf und Tabea Schwarzkopf übernommen, da in der mir vorliegenden Kopie eine Seite fehlt (Seite 187). Die Abschrift von Anke-Dorothee Sehmsdorf und Tabea Schwarzkopf wurde anlässlich der Feier zum 100. Geburtstag von Marion Sehmsdorf, geb. Bock, dem ältesten Kind von Marie Bock, erstellt.

273 Johann Wolfgang von Goethe, FAUST: Der Tragoedie erster Teil: Ich fuehle Mut, mich in die Welt zu wagen, / Der Erde Weh, der Erde Glueck zu tragen, / Mit Stuermen mich herumzuschlagen /Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.

274 Handschriftliche Ergänzung von Marie Bock: 13. 8. 51

275 Handschriftliche Ergänzung von Marie Bock: 14.8.51

276 Dr. Wilhelm Bock, 1874 – 1954, ist der zukünftige Ehemann von Marie Bock

277 Hier bricht das Manuskript ab – das angefangene Wort wird sich auf Seiten befinden, die wohl als verschollen gelten müssen, denn das Original des Manuskriptes befindet sich in einem Familienarchiv bei Eckhardt Sehmsdorf in Quedlinburg, und auch die Abschrift von Abschrift von Anke-Dorothee Sehmsdorf und Tabea Schwarzkopf bricht hier ab, und ihnen hat das Original vorgelegen.




 

 

 

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