Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Brüssel

 

Und was da war, ist mir in eins verflossen:
In eine überstarke, schwere Pracht,
Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht.

Gianinos Monolog in Der Tod des Tizian (1892)

Hugo Laurenz

Nach 3 seelisch recht wertvollen Wochen trug uns ein Rheindampfer nach Köln. Die Verwandten, mit denen ich in Nürnberg solch restlos schöne Tage verlebt hatte, suchten wir auf, besahen den Kölner Dom – das volle Verständnis dafür fehlte mir aber noch – und am Tag drauf brachte uns der Zug nach Brüssel. „Sellchen“ = Mlle François, die 3 schöne Jahre bei uns gelebt hatte, holte uns von der Bahn ab, begleitete uns ins Hotel und dann auf die Boulevards. Ich war vollkommen wie berauscht. Nicht in Berlin, nicht in Paris, nicht in Wien, nicht in Rom habe ich die brausende, benebelnde, aktivierende Atmosphäre der Großstadt mit ihrer Körper und Seele einfangenden Gewalt, „die Sinne stumm und Worte sinnlos macht176, so empfunden und erlebt, wie an jenem Abend in Brüssel. Mir war, als ob alle treibenden Kräfte der Welt, des Geistes und der Sinne hier um mich zusammenliefen. Gegenüber diesem Erlebnis, das sich für niemand sichtbar in meinem Innern abspielte, erschien mir mein Liebeserlebnis in Königsberg matt und schal. Nach außen spiegelte sich dieses Erlebnis in einer lange mir nicht gekannten überschäumenden Lebendigkeit, die ganze, jahrelang zurückgestaute Vitalität brach durch. Ich war „ivre de jeunesse177. Wir speisten vorzüglich und doch nicht beschwerend auf den Boulevards im Freien; die verschiedensten Ausrufer in den verschiedensten Sprachen riefen und priesen ihre Waren an, waren es nun „pommes frites“, „journaux“ oder „cigarettes“, aber es war gleich einem orchestre, nicht Lärm oder Geschrei, sondern ein belebendes Zusammenklingen. Mlle machte mich darauf aufmerksam, daß kein Mann und keine Frau allein ginge, täte sie es, habe sie sofort ihren Partner. Zum Spaß meiner Mutter probierte ich das sofort praktisch aus, kehrte aber bald erschreckt in die Gemeinschaft von Mama und Mlle zurück. Die ganzen drei Tage in Brüssel waren von diesem starken Lebensimpuls getragen, ob wir im musée Wiertz178 waren, im Hotel de ville, oder in dem faubourg Watermael, wo Mlle mit ihrer Mutter wohnte.

21. September 1901: Auf der Fahrt nach Paris war alles schon französisch und erregte mein Interesse. Ich war ja auf dieser Reise zum ersten Mal richtig im Ausland. Ich sprach sofort französisch und fließend. Das liegt gleichsam in der Luft. Maman hatte ihre Freude an mir. Ich hatte sie seit meines Vaters Tod nicht mehr so munter gesehen. Ein paar Tage vorher war der Zar179 diese Strecke gefahren zum Besuch in Paris, und alle 10 m. stand noch ein Soldat mit Waffen an der Bahnstrecke von Compiègne180 an, das für uns Deutsche eine so tragische Bedeutung bekommen sollte. Meine Brüder George und Herrmann, die damals in Paris tätig waren, Georg in der alten Firma C. F. Eckhardt bei Onkel Hermann, Hermann in einer Ofenvertretung, holten uns am Gare du Nord ab, und wir fuhren zu Onkel Hermann181 und Tante Dora beide hochgebildete Menschen. Wir hatten nun ein gutes Stück Welt durchquert wohl 2500 km und an allen Stationen von Königsberg bis Paris in Berlin, Wiesbaden, Köln, Brüssel, Paris waren wir von lieben Freunden und Verwandten begrüßt und aufgenommen worden. Damals schien mir das ganz selbstverständlich, heute weiß und erkenne ich erst, welche Weite des geistigen Horizontes damit verbunden war, welche seelische Geborgenheit es bedeutete überall in der weiten Welt Herzen zu wissen, die für mich schlugen; und Paris selbst schlug nun die Brücke, die hinüberführte zu allen Großen in Geschichte und Kunst und zu dem ungekannten nur geahnten Seelenleben eines fremden alten Kulturvolkes. Ganz unwillkürlich sind meine Notizen im Tagebuch französisch niedergeschrieben. Ich erlebte hier mit tiefer Erschütterung wie alles Schulwissen in Geschichte, Kunst und Sprache plötzlich auferstand aus seinem Mumienzustand und ein Teil meines lebendigen Selbst wurde. Ohne meine gründlichen Schulkenntnisse wäre Paris für mich ein Häusermeer gewesen, jetzt wurde es zu einer elektrisierenden Welt des Geistes. Dieser weltverbindende zündende Eindruck wurde wohl noch besonders gesteigert durch das Völkergemisch, das sich gerade in Paris nach dem Besuch des Zaren noch aufhielt. Im Café de la paix182 hatte ich eine interessante Unterhaltng „aves de vrais Arabes183. Sie trugen echte Tracht. Mein Temperament machte ihnen wohl Spaß; es waren drei echte Muselmänner. Auch meine Mutter hörte mit Vergnügen zu. Am ersten Vormittag machten wir, um einen Gesamteindruck zu bekommen „une promenade de voiture184 durch Paris. Ich sehe noch alles vor mir: Boulevard des Italiens, Rue Rivoli, Place de la Concorde, la grande Opéra, Arc der Triomphe, durch die Champs Élisées zum Palais des Arts über den Pont Alexandre III zurück zum Arc de Triomphe. Dann die Promenade à pieds im Bois de Boulogne, Besichtigung der Madeleine (Pantheon) und dann durch die jardins des Tuileries entlang am Ufer der Seine zum Tombeau de Napoleon I. Noch heute geht mir ein Zittern durch die Glieder, wenn ich mir jene Verse wiederhole:


Je désire que mes cendres reposent sur les bords de la Seine, au milieu de ce peuple français que j'ai tant aimé.185"


Von der Raumwirkung des Pariser Straßenbildes am Tage und gar am Abend, wenn die Lichtwirkung hinzukommt, macht man sich keinen Begriff. Und dann das Nachtleben in den herrlichen Septembernächten. Das lernte ich kennen, als meine Brüder mich in den großen Zirkus und in ein Cabaret mitnahmen. Ein hochgesteigertes Brüssel! Und dann wieder das Erlebnis im Louvre! Raffael, Rubens, Lebrun wer vermag die Herrlichkeiten alle aufzuzählen oder gar mit dem Gemüt zu fassen! Den Eindruck der Venus von Milo186 hat Onkel Ernst der jüngste Bruder meines Vaters für mich wonnig wieder gegeben:


Venus von Milo

Vor der Venus von Melos

Schönheit, Göttin, Weib, was bist du, welches am meisten?
Welch ein Geheimnis verbirgt deine unsterbliche Brust?
Heiter stimmst Du den Sinn. Vor dir blickt Ahnung des Glückes;
Und so hast Du mir einst klar das Geheimnis enthüllt
Deines unsterblichen Schöpfers: Er sah im Weibe die Göttin,
Eh´er die Göttin als Weib ließ aus dem Marmor entstehn.

Paris 1868


Wieder einen ganz besonderen Eindruck machte die verlassene Stadt der Toten: der Père la Chaise187. So viel berühmte Männer vieler Jahrhunderte ruhen in ihren Steinhäusern! Eine ähnliche Stadt der Toten, nur in verkleinertem Maßstab, habe ich nur noch viele Jahre später in Hamburg gesehen. Der Sarg ist nicht in der Erde, sondern nur in einer ausgemauerten Vertiefung unter der Erde, über die sich ein kleiner Bau erhebt.

In der Comédie Française sah ich Hernani von Victor Hugo188. Der Inhalt ist mir heute nicht mehr klar im Bewusstsein, aber welch ein Fest, welch ein Eindruck war in jener Zeit an sich ein Theaterabend und nun gar in Paris! Die weite Entfernung, die Toilette, der hohe Preis – 20 frcs kostete unsere Karte – all das gab dem Abend den Reiz des Seltenen, wenn nicht des Einmaligen. Und die Vorfreude, die seelische Einstellung gab erst den rechten Boden für den Genuß und gab ihm Nachwirkung und Dauer. Das heute für die gebildete bürgerliche Schicht diese Art zu genießen fast ganz wegfällt, und einen Adel und einen Hof haben wir ja nicht mehr, muß sich täglich schwerer in der Verflachung des gesamten Kulturniveaus auswirken. Wie jämmerlich ist dagegen der Film, das geistige Brot von dem wir uns fast alle heute nähren! Ich schwamm damals mit der Kraft und Begeisterungsfähigkeit meiner 21 Jahre in einem Strom von Geist, Kultur und Schönheit, wie ich es später nur noch in ganz seltenen Zeiten und dann nie in solcher Reinheit und Zusammenballung erlebt habe. Und all dies Erleben wurde noch überhöht durch meine tiefe Liebe zu Tante Dora, die mich bezauberte. Daneben mußte alles, was ich in Königsberg zurückgelassen hatte, verblassen, ja versinken. Jeder neue Tag brachte neue Erlebnisse in St. Cloud, in Versailles, im Pantheon, in den Kirchen. Bei den Erinnerungsstätten von 70/71189 lebte meine Mutter besonders auf. Den Eifelturm habe ich auch bestiegen. Auf der obersten Spitze war ich nicht, aber im letzten Stockwerk. Er hat einen Ausschlag von 10 m rechts und 10 m links, aber man wird des nicht bewusst. Da oben stand ein Orakelautomat. Ich warf mein Geld hinein und fragte: „Soll ich Paul Hüter heiraten?“ prompt kam die Antwort: „Vous êtes trop jeune190. Das hatte mir noch niemand gesagt. Das Orakel 300 m über Paris hatte das Rechte getroffen. Ich war noch zu jung und unfertig, um mein Leben in feste Bahnen zu lenken. Als ich mir nun neu die Frage über meine Zukunft vorlegte merkte ich wie ich gewachsen war; Hüter und mit ihm das ganze letzte Jahr mit seinen Freuden und Leiden verblasste zur Episode. Mein Entschluß war gefasst.

Am 30. Sept verließen wir schweren Herzens Paris und Tante Dora. Ich habe sie nicht mehr wiedergesehen. Über Wiesbaden, Kassel (Bruder Walter), Gießen (Geheimrat Vossins) ging es nach Berlin. Müde und naß kamen wir dort an. Mama fuhr gleich weiter. Die Reise hatte die Klärung bewirkt, die meine Mutter gewünscht hatte. Ich blieb noch einige Tage bei Tante Marie und schrieb von dort den Abschiedsbrief. Ich habe ihn nie mehr gesprochen, auf der Straße grüßte er mich nicht. In meinem Tagebuch habe ich den Schlussstrich gezogen:

16 Okt. 1901 „Die Reise ist zu Ende. Ich habe viel gesehen, viele schöne Stunden verlebt, viel gelernt, komme aber nicht ruhig und gefestigt, nein sehr schwankend nach hause. Ich sehe durchaus daß ich nicht weit davon entfernt bin fertig zu sein.“

Das Ziel, das ich mir damals setzte, habe ich bis heute noch nicht erreicht, aber das Wort, das die Aufzeichnungen dieses Jahres abschließt weist doch hoffnungsfroh in die Zukunft und kann geradezu als Motto für mein ganzes Leben gelten:


Ther gerno gode thionot
Ih weiz her imos lonot.
191



 

176 Zitat aus Gianinos Monolog in Der Tod des Tizian (1892) von Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal, genannt Hugo von Hofmannsthal (* 1. Februar 1874 in Wien; † 15. Juli 1929 in Rodaun bei Wien), österreichischer Schriftsteller, Dramatiker, Lyriker, Librettist sowie Mitbegründer der Salzburger Festspiele. Er gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten des deutschsprachigen Fin de Siècle und der Wiener Moderne.

177Trunken vor Jugend

178 Das Antoine Wiertz Museum (frz. Le Musée Antoine Wiertz) ist ein dem belgischen Maler, Zeichner, Kupferstecher und Bildhauer Antoine Joseph Wiertz gewidmetes Museum in Ixelles in der Region Brüssel.

179 Nikolaus II., Zar von Rußland (1894-1917)

180 Compiègne, eine nordfranzösische Stadt, liegt an der Oise, 80 km nördlich von Paris. Compiègne ist bekannt durch die Unterzeichnung zweier Waffenstillstände zwischen Deutschland und Frankreich (Waffenstillstand von Compiègne).

181 Hermann Eckhardt, geb. 06.05.1841 gest. 19.07.1912 Stuttgart nach langer Tätigkeit in Paris verh. 28.05.1881 Paris mit Dora [...] geb. 21.10.1847 Paris gest. 07.02.1903 Hamburg(?)

182 Das Café existiert heute noch

183 mit echten Arabern

184 Eine Auto-Promenade

185 Ich wünsche daß meine Asche an den Ufern der Seine ruhe, inmitten dieser französischen Menschen die ich so geliebt habe.

186 Die „Venus von Milo“ genannte Aphroditestatue ist neben der Laokoon-Gruppe das bekannteste Beispiel der hellenistischen Kunst der griechischen Antike. Sie entstand um 100 v. Chr. und wurde erst 1820 von einem Bauern auf der Kykladeninsel Mílos in der Umgebung der Ruine eines griechischen Theaters gefunden. Die Arme der Statue wurden nie gefunden. Die Skulptur entstand aus Marmor aus den Steinbrüchen der Kykladeninsel Paros und symbolisiert das Ideal der weiblichen Schönheit. Jules Dumont d’Urville entdeckte die Skulptur in türkischem Besitz und arrangierte den Kauf durch Frankreich, wo die Statue König Ludwig XVIII. als Geschenk geschickt wurde. Dieser schenkte sie dem Louvre in Paris, wo sich die Statue noch heute befindet.

187 Friedhof Le Cimetière du Père-Lachaise

188 Hernani, 1830 (Vorlage für die Oper Ernani von Giuseppe Verdi) von Victor Hugo (* 26. Februar 1802 in Besançon; † 22. Mai 1885 in Paris), gilt als einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller. Er schrieb Gedichte, Romane und Dramen und betätigte sich als Publizist.

189 Den Deutsch-Französischen Krieg von 1870–1871 (umgangssprachlich auch „Siebziger Krieg“; eigentlich französisch-preußischer Krieg) erklärte das Kaiserreich Frankreich gegen Preußen nach Streitigkeiten um die spanische Thronfolge

190 Sie sind zu jung

191 Aus: De Nederlandsche letterkunde in de Middeleeuwen. Tweede boek. De romantiek.[p. 61] (althochdeusch) Wer gerne Gott dient, ich weiß daß ers ihm lohnt.



 

 

 

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