Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Der Mühlenteich


Wohl eine halbe Stunde vom Gutshaus lag malerisch die Mühle und der umwaldete Mühlenteich. Der Teich selbst lag tief, zu beiden Seiten erhoben sich schmale Waldungen, offenbar künstlich angelegt, wie ihr Name „die Anlagen“ besagte. In diesen Anlagen führte am Ufer des Teiches ein schmaler Pfad entlang. Hin ging man auf der Chaussee, wohin der Waldpfad führte, ist mir vollkommen entfallen. An einer schönen Stelle war ein Badeplatz gemacht worden. Dort haben wir mit unseren Gästen schöne Stunden verlebt und auch auf Strohbündeln die ersten Schwimmversuche gemacht. Einmal bin ich auch mit den Brüdern auf dem schmalen, schlüpfrigen Pfad am Ufer des Teiches entlang geritten. Das war streng verboten, weil ein Pferd das Bein brechen und wir stürzen konnten. Die atemlose Spannung und das Herzklopfen, die Waldesstille und die ganze Atmosphäre des Verbotenen ist in mir wach, als wäre es gestern gewesen. Einen Strauchbesen führten wir mit, um alle Spuren der Pferde, die sich um unser schlechtes Gewissen nicht kümmerten, gleich zu vernichten. An der Badestelle mußte ich die 4 Pferde halten, weil meine Brüder baden wollten. Als Menschenstimmen zu hören waren, bekam ich den Befehl, mit den Pferden den Abhang hinauf zu steigen bis zum Ackerrand. Das war gar nicht ganz einfach, denn der Abhang war recht hoch und steil und der Raum zwischen den Bäumen für 4 Pferde sehr schmal, aber es gelang. Ich war damals wohl 12 Jahre und sehr stolz, das ich zu solchen Diensten gerufen wurde. Dafür verschwiegen meine Brüder auch Unfälle die ich bei tollkühnen Ritten hatte. Es ging ja gottlob immer glücklich aus. Meine Mutter war sehr ängstlich und hätte mir sicher das Reiten verboten, wenn sie alles gewußt hätte. Auch das Baden machte ihr schon große Sorgen. Da kam mein Bruder Walter, der edelste und unerschrockenste von den vieren auf einen guten Gedanken die „Mama“ zu beruhigen. Vor unserem Haus war ein Dorfteich, ziemlich groß, wenn auch schmutzig. Er ließ sich eine Waschwanne geben und rief die Mama, sie möchte zusehen kommen. Voll angezogen setzte er sich hinein, ließ sich einen Stoß geben, ruderte noch zum Schein und plumpste dann selbstverständlich mit der Wanne um. Ein Schrei meiner Mutter. Aber gewandt tauchte er auf und schwamm flott mit den Kleidern an das ziemlich weit entfernte jenseitige Ufer. Triefend kam er zu der Zuschauermenge und sagte „So Mama, nun hast du gesehen, das ich schwimmen kann.“

Neben Reiten, Schwimmen, Flitzbogenschießen, Croquet und Tennisspielen brachten wir Mädels es auch zu großer Gewandtheit im Klettern. Im Park, der sich ans Haus anschloß, waren zwei lange Laubengänge aus Buchen. In diesen Buchen kletterten wir den ganzen Gang entlang und an besonders schönen Stellen hatten wir unsere Wohnung. Stundenlang konnten wir oben in den Buchenästen sitzen und Buchenblätter fein ausritzen oder lesen meist überhöht durch das Geheimnisspiel, das allem und jedem Tun eben seinen besonderen Reiz gab. Im Ausritzen der Buchenblätter waren wir auch sehr geschickt; wie wir überhaupt, da wir alles mit Eifer, Liebe und Ausdauer betrieben es auch in allem zu einer gewissen Meisterschaft brachten. Vor kurzem noch kam mir solch ein Blatt in die Hand, aufgeklebt auf ein Stück Papier, auf dem Worte standen, die mir nur bruchstückweise noch im Ohr nachklingen. Vielleicht besinnt sich Elisabeth noch auf das Fehlende!


den Ekkehard,
den ich mit Feuer und Begeisterung las.
Und träumend hielt ich dieses Blatt in Händen.
Fort trug der Wind die schnell gesprochenen Worte.
Da fiel mir ein, daß ich zum letzten Mal
als Kind mit dir auf diesem Baum gesessen.“


Die Laubengänge liefen am Ende in richtige viereckige Lauben aus mit 3 Bänken ringsum. Die schönste von den beiden war unsere „Theaterlaube“. Neben all dem körperlichen Sport vergaßen wir auch den geistigen nicht. Er war uns kein Zwang, er war uns selbstverständlich und gehörte zum Leben wie Spielen und Klettern und Reiten. Der Mäzenas dieser geistigen recreations und später creations war Tante Marie, die schon Anfangs genannte gescheidte Schwester meines Vaters. Ihre Freude an allen geistigen Äußerungen spornte uns an und förderte Ungeahntes zu Tage. Zuerst waren es Gedichte, die wir in der Theaterlaube vortrugen, solche, die wir kannten, dann lernten wir zu dem Zweck und zwar, wenn ich heute zurückdenke, mit rasender Geschwindigkeit. Die illustrierten Bücher meiner Mutter boten die größte Anziehungskraft. “Album für Deutschlands Töchter76 und der Illustrierte Schiller. Mit 10-11 Jahren lernten wir „des Mädchens Klage77, “Der Knabe am Bach78 und auch die „Kindsmörderin79“.

Des Mädchens Klage

Der Eichenwald brauset, die Wolken ziehn,
Das Mägdlein sitzet an Ufers Grün;
Es bricht sich die Welle mit Macht, mit Macht,
Und sie seufzt hinaus in die finstre Nacht,
Das Auge vom Weinen getrübet.

"Das Herz ist gestorben, die Welt ist leer,
Und weiter gibt sie dem Wunsche nichts mehr.
Du Heilige, rufe dein Kind zurück,
Ich habe genossen das irdische Glück,
Ich habe gelebt und geliebet!"

Es rinnet der Tränen vergeblicher Lauf,
Die Klage, sie wecket die Toten nicht auf;
Doch nenne, was tröstet und heilet die Brust
Nach der süßen Liebe verschwundener Lust,
Ich, die Himmlische, will's nicht versagen.

Laß rinnen der Tränen vergeblichen Lauf!
Es wecke die Klage den Toten nicht auf!
Das süßeste Glück für die trauernde Brust
Nach der schönen Liebe verschwundener Lust
Sind der Liebe Schmerzen und Klagen.

Friedrich Schiller

Die gefiel gerade meiner kleinsten Schwester besonders, an der Stelle: „Henker kannst Du keine Lilie knicken“ erlaubte sich die 8-jährige die Kritik: „Aber Tante, sie war doch keine Lilie.“

Was der Laube aber ihren Namen gegeben hat, war ein kleines französisches Stückchen, “Aprés le bal“, das gerade meiner Schwester Ottilie und mir auf den Leib geschrieben war. Zwei junge Mädchen sind am Abend der Hochzeit ihrer Schwester ins Bett geschickt und unterhalten sich über den Bräutigam „le cou de denton80 und malen das Bild ihres Zukünftigen. Mein Ideal lag ganz in der realen Welt, besonders haftete mein Herz an der schönen Richterrobe und im Eifer der Schilderung ging ich soweit, als Vorteil zu preisen „le canon qu´on tire à son enterrement“. Ottilie hatte dann entsetzt zu sagen:

Moi je voudrais un poète, oui quelq´un inquiète et qui dans de beaux vers …“

De vers de pourquoi?“

Pour me parler d´amour et du ciel“

Et de toi …“

Sie trennten sich am Fluß mit den Worten:

Rêve de mariage“

Et toi, rêve d´amour!” 81


Dies Stückchen übten wir in der Theaterlaube und brachten es zur vollen Beherrschung des Stoffes in dem Maße, das die Zuhörer tatsächlich den Eindruck bekamen, nicht Erlerntes, sondern selbst Erlebtes, Eigenes zu hören.

Die Sprache und das Auswendiglernen machte uns ja nicht die geringsten Schwierigkeiten, denn inzwischen war Mademoiselle François zu uns gekommen und Französisch war die Sprache des täglichen Lebens.

Als “Sellchen“ ankam, bekamen wir allerdings zuerst einen großen Schreck. Sie hatte bei ihrer Anmeldung Frevelwalde statt Pregelwalde als Poststation angegeben, der Brief erreichte uns daher erst lange nach ihrer Ankunft. So war kein Wagen am Bahnhof Lindemann gewesen und sie hatte nach der langen Fahrt von Brüssel noch dazu bei Wind und Regen auf ostpreußischen Landwegen den Weg von 0,7 km zu Fuß machen müssen. Ich sehe sie noch deutlich vor mir und staunte das kleine fremdländische Fräulein mit den dichten nassen Haaren und Kleidern genauso an wie meine Mutter, die mit einem Mal fließend französisch mit Mademoiselle François sprach.

Sie paßte glänzend in unser Haus. Sie war Lehrerin, keine „bonne“, sehr gescheidt, taktvoll und sehr geordnet. Nach wenigen Tagen war sie heimisch bei uns. Wir Mädels hatten die Gewohnheit uns abends noch lange zu unterhalten und konnten dabei kein Ende finden. Da erschien plötzlich Sellchen bei uns im Kinderzimmer mit aufgelösten dichten Haaren, das bis auf die Erde reichte. Wie staunten wir sie an! So etwas kannten wir nur vom Märchen her! Sie hätte sich ganz hineinhüllen können.

Englisch hatten wir schon vorher mit Tante Marie betrieben und Little Women, Good wives, Little Men82 und einige Bücher mit 12/ 13 Jahren mit ihr schon gelesen; wohl verstanden gelesen, nicht übersetzt. Dadurch hatten wir auch für das Englisch das Sprachgefühl bekommen, das noch so solider Unterricht der alten Methode nie allein geben kann. Wohlverstanden, die solide Grundlage hatte Fräulein Wermke gegeben und dann die Schule! Unsere Mitschülerinnen, Irmgard, Lolli und Minna Simon, die diese solide Grundlage nicht bekommen und immer „bonnen“ gehabt hatten, kamen über ein gewisses Niveau nie hinaus und ihre Arbeiten wimmelten von Fehlern. Es waren die Töchter der durch die „Adultera“ von Fontane83 berühmt gewordenen Frau Simon geschiedene Ravenay.

Auf den oberen Klassen lasen wir alle drei englische und französische Bücher aus der Bibliothek ohne Mühe. Das erste deutsche Buch, das ich las, noch mit Fräulein Wermke, war Robinson Crusoe84, der erste Roman Soll und Haben85.

Wir hatten auch viel Logierbesuch in Genslack, besonders in den ersten Jahren. Ein Bild von der Küche an der Fliederlaube aufgenommen zeigt, wieviel Menschen meine Mutter bewirtete und beherbergte.


Familienphoto der Familie Georg Friedrich Lemke in Genslack

1) Alexander Lemke (Sohn), 2) Hausangestellte, 3) W.O. Goerke (Schwager), 4) Antonie Lemke, geb. Giese, 5) Ottilie Goerke (Schwägerin, geb. Eckhardt), 6) Georg Friedrich Lemke, 7) Marie Lemke (Ehefrau), 8) Hausangestellte, 9) Käthe Lemke (Tochter von Hugo Lemke), 10) unbekannt, 11) unbekannt, 12) Hugo Lemke, Bruder, 13) unbekannt, 14) Georg Lemke (Sohn), 15) Marie Lemke (Schwester), 16) Hermann Lemke (Sohn), 17) Hausangestellte, 18) unbekannt, 19) Marie (Muschi) Lemke (Tochter), 20) Grete Lemke, (Schwester), 21) Ottilie (Tiny) Lemke (Tochter), 22) unbekannt, 23) Elisabeth Lemke (Tochter), 24) Walter Lemke (Sohn)

2), 8) und 17) sind Amalie, die alte Anna (Köchin) und Rose - leider können die Namen nicht zugeordnet werden


Auch dadurch hatten wir viel Anregung. Tante Antonie machte uns mit der Welt Christi bekannt, Tante Marie spielte mit uns Bézique86, lehrte Patience legen und brachte mir ein Kartenkunststück bei, bei dem ich noch lange nach ihrem Tode in Gesellschaften Aufsehen erregte. Es hat nie einer das Rätsel gelöst. Ich werde es im Laufe der Erzählung meines Lebens hier preisgeben. Die Frauenfrage und die Gattenfrage wurde uns durch sie nahe gebracht und diese Unterhaltungen fanden ihren Niederschlag in einem kleinen Stückchen von Elisabeth: “Wer ist der Rechte?“ Eine Aufführung hat dies Stückchen nicht erlebt, wohl aber ein anderes von der 11jährigen. Die geladenen Gäste kommen und werden begrüßt, aber ungeduldig wartet man auf´s Essen. Da kommt die Nachricht, das die Katze die gebratenen Täubchen gefressen hat; mir ist nur noch der Vers in Erinnerung: „Nehmen Sie gefälligst Platz.“ (leise) „Kommt bald das Essen lieber Schatz?“ Und der Schluß wo man beschließt ohne Fleisch bei Kuchen und Obst vergnügt zu sein „wie es ist in der Thalysia87 Mode nach Dr. Lahmanns Heilmethode.“ Auch hier bedeutet, wie die Unterhaltung der Großen nachwirkte. Tante Gretchen erzählte uns den Inhalt der Wagnerschen Dramen, jeden Abend, wenn wir noch einen Spaziergang machten, mit Fortsetzung.

Titurel88, Gurnemanz89, Parsival90, Lohengrin91, das wurden uns liebe wohlbekannte Gestalten. Als Tante Gretchen das zweite Mal kam brachte sie Gredel mit, die Gesangslehrerin in Berlin war und bei Tante wohnte. Sie war die Tochter des ältesten Bruders meines Vaters, Onkel Julius, dem Gründer der Leipziger Feuerversicherungsanstalt92, damals 34 Jahre alt. Sie war sehr hübsch, mit glattem dunklem Scheitel und mit tiefer Altstimme. Sie sang mit uns und für uns und mit manchem Lied klingt in mir jene Zeit wieder. Es ist wohl das einzige Mal in meinem Leben, das mir Musik innerlich nahe gebracht wurde. Sie war eben eine Künstlerin, sie hielt uns selbst an produktiv zu sein und -- ich liebte sie. Ich liebte sie mit der ganzen schwärmerischen Kraft meiner 18 jährigen Mädchenseele, ich dachte Tag und Nacht nur noch an sie, ich glaubte nicht mehr leben zu können, als sie abfuhr. Das Wunder geschah! sogar die Schule wurde mir gleichgültig und vom 2ten Platz, den ich mir schnell erobert hatte kam ich auf den 4ten.

Wenn ich ein Vöglein wär, Schlafe mein Prinzchen es ruhen93, An Alexis send ich Dich94, mit diesen Klängen kommt eine Welle wonnesamer Empfindungen herauf.

Am schönsten war das Lied:


Sag wo sind die Blumen hin
ach die Blumen sind verblüht.
Sag wo ist das Mädchen hin?
Sag wo ist der Sänger hin?
Auch der Sänger ist verblüht.


5 Jahre nach dem Besuch bei uns heiratete sie José Viana da Motta und 1 Jahr darauf war sie tot. Auch der Sänger ist verblüht.

Onkel Hugo95, Gymnasialdirektor in Stettin und Konservator von Pommern96, war auch einer unserer Gäste mit Frau, einer Tochter und dem jüngsten Sohn Barnim. Er war uns sehr interessant. Er zog sich aus der großen Gesellschaft aber gern zurück und saß stundenlang in dem Pavillon hinten im Park und studierte seine Pergamentbände. Er hat das Museum für Altertumskunde in Stettin begründet und schon zu seinen Lebzeiten wurde seine Büste dort aufgestellt. Jetzt sollen Museum und Büste auch ein Raub der Flammen geworden sein.

Hugo Lemcke


Aber bei allem Besuch, bei aller Betätigung und allen Anregungen blieb doch immer Zeit zur Besinnung und Beschaulichkeit und die ganze Schönheit eines Sonnentages, das Summen der Bienen, einer Hummel, das leise Rascheln der Bäume im Winde, die ganze sommerliche Atmosphäre habe nicht nirgendwo empfunden wie in Genslack.

Kopf und Herz waren eben noch frei und imstande sich ganz dem Augenblick und der Stimmung hinzugeben. Manche Geräusche sind ganz untrennbar mit Genslack verbunden.

Wenn es plötzlich tüchtig gießt abends im Halbdunkel: dann durchfährt mich der Gedanke: ob dein Hut noch im Garten liegt? Es passierte mir nämlich oft, daß ich im Laufe angeregter Spiele den Hut im Garten vergaß und ihn mir dann erst am anderen Tag ganz naß und steif getrocknet wieder holte. Das waren damals aber noch richtige Strohhüte, die gottlob auch solche Behandlung vertrugen.

Genslack war nicht zu vergleichen mit einem modernen Seebad, in das man Kinder hinführt für ein paar Wochen als Gäste. Wir waren nicht Gäste, wir kamen nach hause, wir fanden alle unsere Sachen unberührt vor, wenn wir wiederkamen und alles war schön vom ersten Augenblick des Packens und das Reisefieber beim Besteigen des Dampfers unten am Pregel mit dem beliebten Mundvorrat kalter Bratwurst, kalter Klopse, harten Eiern und Broten für die lange Fahrt von 3-4 Stunden auf dem sonnenbeglänztem Pregel bis zum Schluss, wenn der Kutschwagen und der Klapperwagen fürs Gepäck vor dem Hause hielten, um uns heim zu nehmen. Auch schlechtes Wetter konnte uns nichts anhaben.

Ach wie viel könnte ich noch erzählen!

Mit 13 Jahren bekam ich meinen Damensattel und Hermann einen kleinen Klapperwagen zu Weihnachten. Der Wagen ließ sich nicht auf den Weihnachtstisch stellen, darum lag auf seinem Platz ein Bogen auf dem ein Wagen aufgeklebt war, darunter die Verse:


Einen Wagen hast Du hier,
Aber Sohn, das merke Dir,
Sollte ich es je erleben,
Daß sich tut ein Streit erheben
Zwischen Dir und den Geschwistern
Wenn sie nach dem Fahren lüstern.
Dann wirst Du es bald erleben
Das wir ihn einem anderen geben.
Vielleicht auf Nimmerwiederkehr.
Du bist Herr von dem Gefährt
Wie - hab ich Dir nun erklärt.
Du kannst fahren durch Wald und Feld
Aber immer sei bereit
Den mitzunehmen, den es freut.


Ganz genau hab´ ich es nicht mehr behalten und viel in Reimen auszudrücken war bei uns in der Familie alte Familientradition. Ich habe ein ganzes Buch mit schönen Gedichten und Rätseln, die mein Großvater meiner Mutter, als sie in Königsberg war, schickte, oft an statt von Briefen97. Mein Vater benutzte auch gern statt selbst einzukaufen, diese symbolische Handlung. So besinne ich mich auch auf den Vers:


In dem gewünschten rechten Verhältnis
mein Einverständnis.


Bei dieser Liebe zum Reimen war auch das Gesellschaftsspiel einen Reim zu machen aus zwei Worten, die vom rechten und linken Nachbarn ins Ohr geflüstert wurden, sehr beliebt. Ich besinne mich auf einen schönen Familienabend in der schlichten Genzlacker Wohnstube, an dem noch mein Vater teilnahm. Auf seinen Vers besinne ich mich noch.


Wagner ist ein Componiste
Walters Flötenspiel ist triste.


Die Verse hagelten einer nach dem anderen und wir waren alle so lebhaft, hinterher, daß mein Vater sagte: „jetzt darf nur noch in Versen gesprochen werden.“ Da fiel auch der später oft zitierte Reim:


Von außen ist der George ganz schlicht
Von innen aber doch ein Wicht.
Und stiller wurde es trotzdem nicht.


 
Bruder Alexander98   Bruder Walter99
     
 

Bruder Georg100

  Bruder Hermann101
     
 
Schwester Ottilie102   Schwester Elisabeth103
     

Auch das “Dummkopfspiel“ war sehr beliebt bei uns. Man sitzt im Kreis oder um den Tisch und jeder sagte der Reihe nach ein Wort: Hahn, Apfel, Gedicht u.s.w. der Folgende wiederholt das Wort respektive die Worte und fügt ein Neues hinzu. Wer einen Fehler macht oder nicht weiter kann, ist Dummkopf 1, dann 2, dann 3. Statt des neuen Wortes muß der nächste, der die Reihe anfragt, dann Dummkopf 1 oder 2- einfügen.

Wir machten es mit diesem Spiel, wie mit allem. Schon beim Erwachen fingen wir an die Wortreihen zu sagen und abends vor dem Schlafengehen, so daß wir es auch darin zur Virtuosität brachten. Meine Kinder haben es uns nachher nachgemacht, und es war keinem geraten, da mitzumachen; ich habe auch da gesehen, was Übung macht. Wir betrieben eben alles mit Lust und Liebe und zielstrebigem Eifer und so gestalteten wir uns auch jeden Alltag zum Fest. Ich besinne mich auch auf einen Abend, an dem Fragen aus der Geschichte gestellt wurden und weiß noch, wie es mir Eindruck machte, daß mein Vater so genau über Trafalgar104 und Abukir105 Bescheid wußte. Da passierte auch die kleine Geschichte. Ottilie wurde gefragt wie der Präsident von Frankreich heiße. Sie wußte es nicht und meine Mutter flüsterte Elisabeth, die neben Ottilie saß, zu: „Faure106! Worauf Elisabeth, die eben mit 11 Jahren in die Schule gekommen war sagte: “Aber ich kann doch nicht vorsagen, ich weiß es doch nicht.“

Das war meine Kindheit, das war Genzlack. Es ist als ob ein Heiligenschein über jener Zeit läge!


Toutes ces choses sont passées
Comme l´ombre et comme le vent.
107


Im Jahre 1896 war ich zum letzten Mal und mit der ganzen Familie in Genzlack, 1897 war mein Vater schon schwerkrank im Roten Kreuz in Wiesbaden und ich mit ihm, 1898 fuhr ich nur hin, um alles aufzulösen, denn mein Vater hatte uns verlassen.

Zu der Taufe eines kleinen Jungen des Besitzers fuhr ich noch einmal hin, aber da schien mir alles öd und leer. Ich schrieb in mein Tagebuch die Worte Gerocks108:


Den ich zum Abschied pflücke
Mein letzter Strauß ist dies;
Ich kehre nicht zurücke
Mein Kindheitsparadies.


Im Jahre 1904 bin ich noch einmal zu den Städten meiner Kindheit gekommen, als ich mit meinem Verlobten dort auf Jagd ging und meinen ersten Hasen schoß. Da hatte ein neues Leben sich mir aufgetan. Dazwischen liegen aber fünf traurig einsame und große reiche für meine Entwicklung bedeutende Jahre.


 

76 Album für Deutschlands Töchter. Lieder und Romanzen. Mit Illustrationen von Paul Thumann, W. Georgy, J. Hütthaus u. A. Achte Auflage. Leipzig: C. F. Amelang's Verlag [1874]

77 Des Mädchens Klage von Friedrich Schiller:

78 Der Knabe am Bach von Friedrich Schiller

79 Die Kindsmörderin von Friedrich Schiller

80 unleserlich

81 „Ich wünsche mir einen Poeten, ja einen Unruhigen und einen der in schönen Versen ...“ „Versen worüber?“ „Um mir von der Liebe zu sprechen, und vom Himmel“ „Und von Dir!“ Sie trennten sich am Schluß: „Träume von der Hochzeit“ „Und Du, träume von der Liebe“

82 Little Women, Good Wives, Little Men von Louisa May Alcott

83 L'Adultera von Theodor Fontane. Novelle, Entstehung: Dez. 1879 - April 1880, Vorabdruck in: "Nord und Süd" 1880, Bd 13 u. 14, Heft 39 u. 40 Erste Buchausgabe: März 1882 bei Salo Schottländer, Breslau.

84 Robinson Crusoe von Daniel Defoe, Erscheinungsjahr 1719

85 Soll und Haben von Gustav Freytag ist ein 1855 erschienener Roman in sechs Büchern. Er gehört zu den meistgelesenen Romanen im 19. Jahrhundert. Gustav Freytag ist ein Vertreter des bürgerlichen Realismus.

86 Bézique, Bésigue oder Bézigue war ein zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich und England modernes Kartenspiel.

87 Thalysia, bei den Griechen, ein Fest, welches sie dem Bacchus und der Ceres zu Ehren feierten, wenn sie die Feld- und Weinbergsernte gehalten hatten. (Quelle: Version der Oeconomischen Encyclopädie von Johann Georg Krünitz).

88 Titurel ist ein fragmentarisches, in Strophen gedichtetes Heldenepos des mittelhochdeutschen Dichters Wolfram von Eschenbach.

89 Gurnemanz ist ein Protagonist in Parsifal, dem letzten musikdramatischen Werk von Richard Wagner.

90 Der Parzival von Wolfram von Eschenbach ist ein Versroman der mittelhochdeutschen hochhöfischen Literatur, entstanden vermutlich im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts.

91 Lohengrin ist eine romantische Oper des deutschen Komponisten Richard Wagner. Sie gilt als seine märchenhafteste Oper und spielt vor einem historischen Hintergrund (Brabant in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts). Die Uraufführung war am 28. August 1850 in Weimar im Großherzoglichen Hoftheater. Grundlage des Stoffes ist die Gestalt des Lohengrin in Wolfram von Eschenbachs mittelhochdeutschem Versepos Parzival.

92 Leipziger Feuerversicherungsanstalt AG, 1868-1948

93 Schlafe mein Prinzchen es ruhn Friedrich Wilhelm Gotter in dem Schauspiel "Esther", Leipzig 1795

94 An Alexis send ich Dich von Friedrich Heinrich Himmel (* 20. November 1765 in Treuenbrietzen, Mark Brandenburg; † 8. Juni 1814 in Berlin), deutscher Komponist und Pianist.

95 Hugo Lemcke, Professor und Director des Stadtgymnasiums in Stettin, Historiker, Provinzialkonservator; s. auch: http://schaper.org/ahnen/lemcke/hugo/index.htm

96 Handschriftliche Ergänzungen von Marion Sehmsdorf: Unterlagen dazu bei Christel Neubert. Christel Neubert, geb. Bock †. 2006 in Berlin ist eine Tochter von Marion Bock.

97 Verbleib unbekannt

98 Gottlieb Alfred Alexander Lemke, Kaufmann * 30.04.1874 Königsberg/Pr. † 13.01.1930 mar. Berlin mit Dorothea Kaufmann

99 Walter Oskar Lemke, Kaufmann * 19.04.1877 Königsberg/Pr. mar. 25.01.1910 mit Daisy Vivanti

100 Ernst Erich Georg Lemke, Kaufmann * 25.07.1875 Neuhäuser/Königsberg/Pr. mar. mit Elise Plehn

101 Paul Hermann Lemke, Kaufmann * 18.10.1879 Königsberg/Pr. † 21.12.1936 mar. mit Gertrud Kaminky, Tanzlehrerin in Königsberg/Pr.

102 Dr. Marie Ottilie Lemke Privatlehrerin * 27.12.1881 Königsberg/Pr. † Bad Pyrmont
s auch: http://schaper.org/ahnen/lemcke/ottilie/index.htm

103 Elisabeth Auguste Lemke * 17.9.1884 Königsberg † 8.11.1965 Pyrmont mar. 13.2.1911 Königsberg mit Fritz Rudolf Jankowsky, (Dr.phil.), Schulrat in Königsberg/Pr. * 22.2.1877 Eggleningken/Ostpr. † 11.6.1941 Bad Pyrmont

s. auch: http://schaper.org/ahnen/ElisabethJankowskygeb.Lemke.htm

104 Die Schlacht von Trafalgar am 21. Oktober 1805 war eine Seeschlacht am Kap Trafalgar zwischen den Briten und den miteinander verbündeten Franzosen und Spaniern im Rahmen des dritten Koalitionskriegs. Sie sicherte die englische Vorherrschaft zur See für mehr als ein Jahrhundert und trug so indirekt auch zu Napoleons Niederlage auf dem europäischen Festland bei.

105 Die Seeschlacht bei Abukir, englisch Battle of the Nile, war eine der militärisch entscheidenden Schlachten im Rahmen der Koalitionskriege gegen Napoleon. Sie fand am 1. und 2. August 1798 vor der Küste von Abukir, einer ägyptischen Hafenstadt etwa 15 Kilometer nordöstlich von Alexandria, statt. Dabei vernichtete eine britische Kriegsflotte unter dem Kommando von Admiral Nelson die von Comte Brueys kommandierte französische Flotte, die zuvor das Expeditionsheer Napoleons nach Ägypten gebracht hatte, in einem Überraschungsangriff fast vollständig

106 Faure, Felix, sechster Präsident der französischen Republik (1895-99).

107 Zitat aus einem Gedicht von Victor Hugo (* 26. Februar 1802 in Besançon; † 22. Mai 1885 in Paris), gilt als einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller. Er schrieb Gedichte, Romane und Dramen und betätigte sich als Publizist. All diese Dinge sind vergangen / Wie der Schatten und wie der Wind.

108 Karl von Gerock, 1815 - 1890, Deutscher Theologe und Dichter, war eng mit der Familie Eckhardt/Stuttgart verbunden

 



 

 

 

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