Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Paris 1902


Am 12. Juni in aller Frühe sahen wir in der Ferne den beleuchteten Hafen von Boulogne sur mer. Nach den 10 Tagen grauer Meeres Einöde ein Augenlabsal, ein gewaltiger Eindruck. Um 430 letztes Frühstück an Bord. Ich war gar nicht seemüde, hatte ich doch durch meine Kühnheit und das Entgegenkommen meines Steward als Einizge an Bord das große Glück gehabt, wieder im Gesellschaftszimmer bei einigen zwanzig offenen Luken allein bequem schlafen zu können, statt, wie im Sommer notwendig, zu dreien in dumpfer, luftloser, enger, „inside cabin“. Wohl ½ Std. vor Boulogne gingen wir vor Anker. Ein französischer Dampfer kam uns holen. Unter den Klängen der Marseillaise239 wurden die Anker gelichtet.


Wann sehen wir uns, Brüder,
auf einem Schifflein wieder?“


Boulogne ist wonnig gelegen; malerische Boote in großer Zahl am Strand, im Wasser, viel schöner als bei uns an der Ostsee, und die Fischer gar, Männer und Frauen waren mein ganzes Entzücken. Wir nehmen noch einmal ein echt amerikanisches lunch ein – 3 Dollar für jeden – und besteigen um 2 Uhr den Zug nach Paris.

An jenem Tag begann das Geld in meinem Leben eine Rolle zu spielen, von jenem Tage begann ich zu rechnen. Bei allen Entscheidungen und Entschlüssen hatte ich bisher nur gefragt, ob gut und richtig war, was ich tat, und über „gut“ und „richtig“ hatte letzten Endes meine Erziehung d. h. unser „standard of life“ entschieden; und der kam in äußeren Dingen, was Ordnung, Sauberkeit, Schönheit, Gesundheit betraf, von meiner süddeutschen Mutter aus einem reichen Kaufmannshause und war recht hoch in den genannten Punkten; mein Vater hatte schon als junger Mensch die Not des Daseins kennen gelernt und oft die Worte wiederholt: „Wohlgeschmack bringt Bettelsack“ und „Ein Saumagen wird nicht geboren, sondern erzogen“ aber ich besinne mich auch, daß er sagte: „Für das Lernen kann es nicht genug kosten.“ Im Ganzen wurde zu hause wenig über Geld gesprochen, wenn ich es brauchte, war es eben da. Als ich von Wien zurückkam, kam ich in Berlin meiner Stiefel wegen in Geldverlegenheit. In den Tagen war gerade die Hochzeit von Onkel Alex, ich durfte aber, weil wir Töchter die Trauer um den Papa noch nicht abgelegt hatten, nicht daran teilnehmen, aber ich wusste, daß mein Bruder Georg Brautführer war; als er in die Kirche im Mittelgang an mir vorbeikam, langte er im Gehen mit zwei Fingern in die Westentasche und gab mit 20 M. auf mein Flüstern. Auch vom Essen wurde nicht viel Wesen gemacht – meine Mutter wurde oft geneckt mit ihren „sieben“ Gerichten – und kaum davon gesprochen, Leckereien und Süßigkeiten gab es nur zu Weihnachten und zu Ostern, dann aber sehr gute und reichlich; die Weißbrötchen aßen wir immer trocken, nahmen sie auch, wie einst meine Mutter, trocken zur Schule mit, d. h. die großen Geschwister, bis Elisabeth eines Tages ihr Brötchen hinreichte und sagte „bitte betissen“.

Die Rolle des Geldes als eines harten Tyrannen, dem man sich wortlos zu fügen hatte, war mir schlagartig in Boulogne aufgegangen; wahrscheinlich hatten die sorgenvollen Briefe meiner Mutter in den letzten Wochen über die unsichere Geschäftslage den Grund dafür gelegt, aber meine überquellende Daseinsfreude hatten keinen Raum gelassen für kummervolle Gedanken. Den zweiten Tyrannen, den „Hunger“, sollte ich auch noch kennen lernen.

Um 6 Uhr kamen wir auf dem gare du Nord an, wie im Sept. 1901. Auch Georg und Hermann waren wieder an der Bahn. Da erfuhr ich denn, daß Onkel Hermann und Tante Dora, - wie hatte ich mich auf diese geistvolle, vornehme, liebevolle Persönlichkeit gefreut, im Bad seien. Ich konnte also nicht, wie geplant, bei den Verwandten wohnen. Erste große Enttäuschung. Mit den Amerikanern im Hotel d´Jéno? „Viel zu teuer“ fuhr es mir durch den Kopf. „Ist Geld für mich gekommen?“ „Nein“. Zweite Enttäuschung. „Aber ich habe ein Zimmer für Dich ganz in meiner Nähe, nur „trois francs par jour“. Das freute mich. Wir verabredeten ein Treffen mit den Amerikanern, Ernstie war auch an der Bahn, quite German, und trennten uns. Ich sagte fröhlich „ja“ zu der neuen Lage, und wanderte glücklich mit meinen Geschwistern zum Essen, abends in ein café chantant, eine Art Varieté. Heute noch höre ich Georg mit seiner weichen schönen Stimme den Refrain singen:


Qù´ce que, où´ce que coffre fort, coffre fort,
qu´est rempli d´or coffre fort
coffre fort de Monsieur Craqueford?


Beim Heimweg packte und bezauberte mich wieder wie im Jahr vorher das Boulevardtreiben des Paris bei Nacht, bei dem man glaubte die Pulse der ganzen Welt schlagen zu hören. Als ich dann aber in der Rue Condorcet treize ganz allein in meinem einsamen Zimmer saß, da erschien mir dieser beschwingende Zauber nur als die gewaltige Betäubung für alles Leid der Welt. Und zum ersten Mal auf meinen Reisen ergriff mich ein schmerzliches Heimweh, nicht nach Königsberg, auch nicht nach den Meinen, sondern nach meinem gesicherten und behüteten, in Familie und Gesellschaft sanft und selbstverständlich eingebetteten Dasein. Das feine Zimmermädchen muß diesen Unterton in meiner Stimmung herausgefühlt haben; ich höre noch ihre sanfte Stimme, mitleidig und bedauernd: „Oh, Madame voyage toujours240 Diese tiefe Wehmut dauerte an, solange ich in Paris war. Morgens trank ich in einer „Laiterie“ mit vielen Berufstätigen ein Glas Milch und aß zwei croissants (Hörnchen) dazu, dann wanderte ich stundenlang im Louvre oder Luxembourg oder ich fuhr oben auf dem Omnibus für 20 ctm241 die ganze Strecke hin und zurück; mittags aß ich mit den Brüdern bei „Schipper“ einem ganz einfachen deutschen Lokal. Nachmittags wanderte ich in den Champs Elisées oder traf mich mit den Amerikanern. Das war eine seelische Erleichterung, aber auch sie waren verwandelt; in der fremden Umgebung erlebte ich mit Marie und Hilde was Goethe einst in Straßburg mit Friederike erlebt hatte; diese entzückenden Naturkinder passten nicht in die neue Umgebung; wurde es mir doch schon schwer mich an die Pariser Luft zu gewöhnen, an diese eigenartige Atmosphäre, die getränkt war mit jahrhundertealter Kultur untermischt mit internationaler Civilisation. Wie eindeutig, durchsichtig und greifbar das geistige Potential in New York gewesen war kam mir zwar nicht so klar zu Bewusstsein wie heute, aber ich erfühlte die Luft um mich als Vernebelung; es ging mir wie jemand, der aus der dünnen Luft des Gebirges hinab ins Tal steigt. Und dazu die leeren Taschen, die beunruhigenden Nachrichten von hause, die unsichere Zukunft. Mein Geld kam immer noch nicht. Alle paar Tage zog ich einen Stock höher in ein billigeres Zimmer. Zu meinem Kummer verlor ich im Zimmer meinen kleinen Granatring, das erste Schmuckstück meiner Mutter. Mit Geld waren meine Brüder auch nicht gerade reich versorgt. Heute erscheinen diese Kümmernisse so klein, so belanglos, ja sie gehören fast zum täglichen Brot, ganz tief ist unser „standard of life“ gesunken. Aber aus welcher Höhe seelischer und materieller Geborgenheit war ich gestürzt, für welche neuen Seiten und Tiefen menschlichen Daseins waren mir die Augen aufgegangen! So muß es Adam und Eva zu Mute gewesen sein, als sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten und sahen, daß sie nackt waren.

Noch lag die Erfahrung, die ich gemacht hatte, wesentlich im Feld des Seelischen, eine Vorschau des Kommenden; aber auch über mein Leben stand in Zukunft das „Paradise Lost“.

 


 

239 Franzosische Nationalhymne

240Oh, Madame reist ständig?

241 Ctm. = Centimes (100 Centimes waren ein Franc, Währung in Frankreich bis zur Einführung des Euro im Jahr 2002)




 

 

 

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