O selig, o selig ein Kind noch zu sein !
Auf meiner Kindheit und meinem Elternhaus liegt ein goldener Schimmer. Wenn ich an jene Zeit denke wird´s in meinem Herzen warm. Räumlich und seelisch gab mein Elternhaus mir ein Gefühl des Geborgenseins, der Sicherheit, wie ich es in meinem späteren Leben nur in seltenen Augenblicken wieder empfunden habe.
Es ist eine alte Stadt
Fernab der Städte Heer,
der Sturm braust über die Stadt
Und draußen donnert das Meer.
Es ist ein altes Haus,
Verschlossen ist lange das Tor;
Aus grauen Mauern sprießen
Grüne Halme hervor.
Es ist ein banges Herz,
Fremd und allein.
Die Stadt und das Haus und das Herz
Meine Jugend schlossen sie ein.
Karl Bulcke
(Gedicht in das Manuskript eingeklebt) |
Wenn ich von meinem Elternhaus spreche, dann steht vor mir unser Haus auf dem Lizent. Geboren bin ich in Königsberg Preußen Auf dem Weidendamm. Ich besinne mich, daß mir meine Mutter es (das Haus) als Kind einmal zeigte, nicht weit vom Pregel.1.) Als ich noch ganz klein war, gingen wir auf dem Steindamm ziemlich weit oben, wo die Straße einen Einschnitt hatte. Nur ganz kleine, zufällige Erinnerungen sind aus dieser Zeit in meinem Bewußtsein haften geblieben. Ganz deutlich besinne ich mich aber darauf, daß ich mit meinem Bruder Hermann beim Photographen war. Ein hübsches koloriertes Bild von uns beiden besitze ich noch. Meine Mutter liebte es sehr, weil es mein Wesen so deutlich schon wiedergab. Ich war damals drei Jahre alt. Eine andere klare Erinnerung führt dann schon auf den Lizent. Unser Mädchen hatte einen Korb mit Kaffee und Broten und ich begleitete sie, um den Frauen, die unsere neue Wohnung reinigten, das Essen zu bringen. Hier auf dem Lizent hat sich dann meine bewußte Kindheit, meine Schulzeit, und mein Jungmädchendasein abgespielt von 1884-1899. In diesem Haus hat mich auch das erste große Leid getroffen, als mein Vater am 4. I. 1898 herausgetragen wurde. Wenn ich heute zurückdenke, dann ist es mir, als hätte ich den schwarzen Flor, der sich damals auf die Seele legte, nie wieder ganz abschütteln können. Mein Vater hätte das Haus auf dem Lizent sicher nicht von sich aus gekauft2.) Die Gegend früher angesehen, war jetzt nicht die Beste. Er hatte es von einem Schuldner übernehmen müssen. Es lag gegenüber dem damaligen Pillauerbahnhof3.), der nach Neuhäuser und Pillau führte4.) In Neuhäuser wohnte meine Mutter ein Sommer vom ersten Jahr ihrer Ehe an (1873) vom Mai bis zum September; ich selbst bin bis zu meinem 8ten Lebensjahr in Neuhäuser gewesen. Diese Nähe des Bahnhofs – mein Vater mußte viel hin und herfahren – hat wohl den Kauf des Hauses auch beeinflußt. Das Haus lag auch an einem Einschnitt der Straße, der sich hinten auf einen großen Hof öffnete; ein großer Schuppen stand in der Mitte des Riesenhofes und rings herum waren die kleinen Höfe der einfachen Häuser der Reifschlägerstr. und der anliegenden Straßen.
Das Kindergeschrei und die ganze Atmosphäre des Armeleutedaseins drang über die hohen Mauern zu uns herüber und weckte in mir die erste Ahnung der sozialen Frage, wenn ich mir bewußt wurde, wie so ganz anders jene Menschen zu leben und zu sein gezwungen waren als wir. Die melancholischen Töne des Leierkastenmanns, der von Hof zu Hof zog, habe ich mein ganzes Leben nicht aus den Ohren verloren und wenn immer ich später über soziale Fragen sprach, standen jene Höfe vor meinen Augen und es klangen die Leierkastenmelodien in meinen Ohren wieder. Wenn ich wach in meinem weißen Bettchen lag, tönte von der Straße her der Ruf der Marktfrauen durch die Fenster hindurch welche ihre Ware für wenige Pfennige anboten und die schweren Körbe rechts und links von der Pede durch die Straßen trugen. „Blubäre, Blubäre, wer kauft Blubäre?“ Den Ruf der Fischfrauen habe ich als musikalischen Klang noch im Ohr, ich habe aber nie verstanden, was er bedeuten sollte. Wenn mich später die Sehnsucht nach den Eltern und meiner so behüteten Kinderzeit packte, bin ich oft herunter auf den Lizent gepilgert, habe die alte Türklinke angefaßt, bin auf die Fliesen getreten, die meine Mutter einst hatte legen lassen, habe die Ledertapete im Flur angefaßt, die auch Jahrzehnte hindurch unversehrt geblieben war, und bin durch die Kellertreppe und den kleinen Hof in das kleine Gärtchen gegangen mit der Laube und kam dann gestärkt wieder heim. Den kleinen Garten hatte meine Mutter anlegen lassen, dahinter einen Bleichplatz und einen Hühnerstall. Einen Meter tief hatte meine Mutter den Bauschutt entfernen lassen und Muttererde anfahren lassen, damit etwas darauf wachsen konnte. Sie war von dem schönen Stuttgart an so viel Grün gewöhnt und nun in das Häusermeer nach Königsberg verschlagen worden. Da sollte das Gärtchen ein Ersatz sein. Wenn ich heute sehe, wie kleine Beamte und Arbeiter ein hübsches Häuschen im Garten ihr eigen nennen und wie kalt dagegen meine Eltern waren, die vermögend zwischen Häusern lebten, dann wird mir weh um´s Herz, aber mir kommt dann auch deutlich zu Bewußtsein, welch ein Umschwung in der Wohnweise sich seither vollzogen hat und welche große soziale Arbeit geleistet worden ist, die dem Arbeiter und uns allen Licht, Garten und Gartenarbeit und größeres Alleinsein verschafft hat, fort von den düsteren Höfen, viele Treppen hoch, mit so vielen Menschen. Aber schön war es doch in unserm Haus. Es war sehr gut und solide gebaut. Wir bewohnten zuerst die erste Etage und einen Teil der Parterre, später dann allein die erste und zweite Etage mit insgesamt 12 Zimmern und viel Nebenraum. Diese Räume mußten alle einzeln geheizt werden, 12 Lampen mußten in der Lampenkammer täglich geputzt werden – Gas und Kanalisation kamen erst in den letzten Jahren – soviel Treppen und Hausflure waren zu reinigen und wie viel Füße gingen täglich da auf und ab! Nie habe ich in diesem Haus gefroren, nie Hunger gelitten, nie habe ich Schmutz oder etwas Zerissenes gesehen, nie Lärm und Zank gehört. Daß meine Mutter an manchen Tagen, wie mein Vater sagte, ihren „großen Zorn“ hatte, das zeigte nur um so deutlicher die große Stille und Ordnung als Regel und ließ allen zum Bewußtsein kommen, der ganzen Familie, wer Herr im Hause war; der kleinste Fehler gegen die Ordnung wurde scharf geahndet, doch jeder fühlte sich wohl und geborgen.
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Georg Friedrich Lemke,
der Vater5 |
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Amalia Bertha Marie Lemke,
geb. Eckhardt, die Mutter6 |
1 Handschriftliche Anmerkung von Marie Bock: Ich lese eben in einem Brief meiner Mutter, daß es das Haus war in dem der Dichter Bulcke wohnte.
2 Handschriftliche Anmerkung von Marie Bock: Schilderung meines Vaters
3 Dieser Bahnhof, im Stadtinneren gelegen, wurde von der Südbahn zur Abfertigung von Zügen nach Pillau erbaut (1865). Seit 1882 nahmen die drei Bahnsteiggleise auch die vom Ostbahnhof ausgehenden Züge nach Labiau-Tilsit auf. Das Bahnhofsgebäude war dreigeschossig. Zur Lizentgrabenstraße hin hatte es eine einfache, sandsteinähnliche Putzfassade. In dem Gebiet zur Ostendortfstraße hin lagen Betriebsanlagen zum Abstellen der Personenzüge, Versorgungseinrichtungen für die Lokomotiven sowie Rangiergleise für die Anschlüsse vom Speicherviertel und des Kleinbahnhofs.
4 Anmerkung Marie Bock: Die Bahn dorthin war ganz neu gebaut, ein Privatunternehmen eines gewissen Strußberg.
5 Georg Friedrich Lemke, Kaufmann zu Königsberg * 13.9.1838 Pasewalk/Mecklenburg † 30.12.1897 Dresden
6 Amalie Bertha Marie Eckhardt * 26.5.1848 Stuttgart † 30.1.1937 Königsberg/Pr |