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Miezels Hochzeit (April 1905)

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Tiny holte mich von der Bahn ab, als ich zu Miezels Hochzeit nach Koenigsberg kam.

"Gut, dass Du endlich da bist, Herz". Sie sagte "Härz".
Ottilie Lemke"Die Mutter ist nun aus Wiesbaden zurückgekommen. Diese letzten 2 Jahre, der Konkurs, die Auflösung unseres elterlichen Haushalts - wenn Amelie mir nicht beigestanden hätte ... Miezel war glücklich mit ihrem Studium; Wilhelm hat ihr versprechen müssen, dass sie ihr Studium fortsetzen kann, wenn sie einmal in eine Universitätsstadt kommen, sonst hätte sie ihn wohl gar nicht genommen. Ich finde das Seminar grauenhaft. Und nun sollte ich ein Kranzgedicht machen, und die Mutter saß im Mantel mit Handschuhen auf unserer alten Chaiselongue auf der Vater immer schlief, sie saß da wie ein fremder Besuch und sah sich um und nickte ein bischen "ja, als Sommerwohnung" und sah sich wieder um und nickte wieder: "ja, natürlich. Die guten Sachen sind doch schon alle in Tilsit, in Maries Wohnung."
Ich konnte nichts zusammenbringen und ging zu Frl. Janzen. Sie ist so angenehm ruhig. Frl. Wermke fragt so viel. "Tilchen" sagte sie nur, du armes Kind." und dann holte sie zwei Gedichte aus ihrer Jugendzeit hervor."
"Ach, die gute alte Janzen! Sie ist nur so sehr langweilig. Frl. Prengel, ich liebe sie und nenne sie Tante Clärchen, sagt Frl. Janzen wäre schon in ihrer [Jugend] ein altes Jüngferchen gewesen. Nun sag doch mal mein Gedicht".
Tiny begann tief ernst:

"Geliebte Braut, mein Herz ist tief bewegt
Da meine Hand das Sinnbild ew'ger Treue
Den Myrthenkranz1 um deine Stirne legt.

Vertraue fest und innig du dem Herzen,
Das hoch und freudig dir entgegen wallt,
Bereit mit dir der Erde Freud' und Schmerz
Zu teilen bis des Lebens Hauch entwallt.

Und all mein Hoffen, wie sich's heut' und immer
Um euer Schicksal rankt voll steter Treue
Erblüht auch mit in jenes Kranzes Schimmer,
Der eurer Liebe ewig Abbild sei!

"Furchtbar", stöhnte ich. "Ich kann doch meine eigene Schwester unmöglich mit 'geliebte Braut' anreden! Mir liegen solche Gedichte überhaupt nicht. Warum das alles?" "Du kennst doch Marie, sie möchte eine richtige Hochzeit haben, mit "Orgelgesang und Psalmen, Rotem Plüsch und Palmen" wie es bei Rideamus2 heißt. Ich verstehe das, ich möchte es auch."

In der Hermannallee, wohin Georg nach der Rückkehr der Mutter gezogen war, fand ich zu meiner größten Erleichterung eine ganz fröhliche Hochzeitsstimmung. Georg und Walter waren eifrig beim Dichten.

Georg Lemke

 

Walter Lemke

Georg

Walter

"Die Hauptsache für eine wirklich gemütliche Wohnung ist immer die Lage." "Welche Lage, Walter?" "Am Wasser, natürlich. Ich schlage als Anfang eines Gedichts vor:

Alles, was du einst gefunden
An des Pregelstromes Flur,
Sieh, das findest Du nun wieder
An des Memelstroms Natur."

Walters Preislied wurde dankend abgelehnt. "Es muss etwas von der Antike vorkommen, z.B.:

Ihr habt oft Homer gelesen,
Welchen ganz profane Wesen
Den Modernen stellten nach.
Oh, dann machte Miezel Krach."

"Ja, richtig, was sagte sie doch, als du Jakobsen3, Hofmannsthal4 vorzogst?" "Homer ist mein Lieblingsdichter, da musst Du viel vorsichtiger sein." Und dabei kennt sie die Modernen nicht einmal. Sag mal, Elisabeth, hast Du die Welträtsel von Haeckel5 gelesen?

Es klingelte. Der alte Konsistorialrat Lackner machte Besuch. "Ich habe ihren verstorbenen Mann sehr, sehr geschätzt, verehrte Frau Lemke, wie viele andere Koenigsberger auch." Die Mutter sah zu dem Ölbild6 auf, das ein wenig von dem Charme und der Noblesse seiner Erscheinung wiedergab. "Den Kindern eines solchen Vaters kann es nicht schlecht gehen, Herr Konsistorialrat7, das ist mein fester Glaube." "Und der himmlische Vater sorgt für uns alle, das dürfen wir nie vergessen. Nun sind aber die Haare auf eurem Haupte alle gezählt -." In den Augenwinkeln der Mutter verbarg sich ein kaum spürbares Lächeln. Sie dachte sicher daran, wie Frl. Wermke, die schon seit ihrem 40. Jahr eine Perücke trug, immer sagte, bei ihr hätte der liebe Gott nicht viel zu zählen. Sie goss noch etwas Portwein ein und freute sich an den freundlichen und überzeugten Worten, die Lackner für das Brautpaar fand. Ich begleitete ihn hinaus.

"Wie geht es denn nun Ihnen, mein Tochterchen?" sagte er noch unter der Tür zu mir "sind sie nicht ein bischen schmal und blass?" "Ach nein, danke, es geht mir gut," sagte ich mechanisch, denn "schmal und blass" war mein Steckbrief.

Miezel kam herein. "Ach Elisabeth, du siehst gut aus. Letztes Mal ...". "Ja, ich weiß"; es war ihre feststehende Begrüßung.
"Geliebte Braut" begann ich "mein Herz ..." "Nicht doch; wenn Ihr eine Überraschung habt, dann, bitte, verratet nichts."
"Nein, aber einen Vorschlag möchte ich machen. Wie wär's mit Dehmel8?

Aber komm mir nicht im langen Kleid,
Komm gelaufen, dass die Funken stieben,
Beide Arme offen und bereit.
Auf mein Schloss führt keine Galatreppe.
Über Felsen geht's, reiß ab die Schleppe,
Nur in kurzen Röcken kann man lieben."

Die Schwestern waren auf's höchste chokiert, die Brüder begeistert. Das war so amüsant, obgleich ich mich auch etwas genierte. "Oder wie wär's mit Homer?" "Homer ist mein Lieblingsdichter ..." zitierte Georg, aber Miezel hatte gerade keine Lust zum Scherzen. Sie rief mich beiseite. Ich sah, dass sie den Tränen nahe war. "Was wollen wir nur machen? Wir haben solch nette Herren, und alle meine Freundinnen haben abgesagt. Ich war heute noch bei Ilse v.Horn. Sie ließ sich gar nicht sprechen; sie ist gekränkt, weil die Einladung zu spät kam; bei den anderen zwei ist's ähnlich. Nichtige Gründe! Wie damals bei meinem Tee, als wir nachher alle guten Sachen allein aufaßen."
"Nette Freundinnen! Sorge dich nicht! Ich werde zunächst Mieze Heumann anläuten und zu Dora [Walter] gehen. Wilhelm erzählte mir übrigens, dass dieser Dr. Jankowsky, der wohl auch kommt, Dora auf einem Bazar kennen gelernt hat und von ihrer Schönheit entzückt ist. Er kann sie ja als Brautdame haben." "Sie werden die Einladung 2 Tage vorher nicht annehmen." "Ich bitte dich, meine Freundinnen. Schade, dass wir nicht mehr Platz haben."

Dora Walter, Rose Kowalski, Elisabeth Lemke

Dora Walter, Rose Kowalski und Elisabeth Lemke

Sie kamen beide, und Dora hatte sich noch etwas Reizendes ausgedacht. Sie und Ferdi, ihr Bruder, hatten sich als alte Schachteln verkleidet, mit Kapotthut9 und Biedermeier10locken. Sie sah süß aus und Ferdi unwiderstehlich drollig, wie immer Herren im Damenkleid. Sie neideten der Braut ihre vielen Künste in geistigen und praktischen Dingen, und als sie sich zum Schluss mit dem Ruf: "Schwester, wir bleiben ledig!" in die Arme sanken, wurde eifrig geklatscht und die richtige Stimmung war geschaffen.

Jetzt wollten alle dichten und die Tortenstückchen der Bunten Schüssel (natürlich von Roudi) dienten zu Improvisationen über die wir vergnügt lachten, schon aus Freude am Lachen selber. Walter bekam einen Stern: "Haeckelianer11, sieh den Stern - Denn ich hab erfahren, - Dass er existierte schon vor Millionen Jahren. -" "Millionen!! Ich bitte euch, da müsste ich allerdings mit anderen Zahlen rechnen! Kennt ihr den Begriff der Lichtjahre? Übrigens, Fräulein Dora, haben Sie schon die Welträtsel12 von Haeckel gelesen?" "Mein Vater hält nicht viel davon." "Sie müssen sie selber lesen."

Miezel trat hinzu. "Walter sorgt ja gar nicht für Dich, Dora. Soll ich Dir noch etwas Wein eingießen?" Ehe Dora antworten konnte, sprang Walter empört auf. "Mitten in der Unterhaltung wird man durch Nebensächliches unterbrochen! Barbarei! Mit dir verheiratet zu sein ist ja schwerer Kerker". "Dann sollen die Gäste wohl lieber hungern?" sagte Miezel ungerührt, "deinen Teller hast du auch auf dem Buffet13 stehen lassen; es wird ja alles kalt."
"Dann mag es noch kälter werden. Wann macht die Menschheit sich endlich unabhängig vom Essen! Wenn meine Frau mich einmal zum Essen rufen sollte, damit es nicht kalt wird, lasse ich mich glatt scheiden." "Dann ist es vielleicht mit dir schwerer Kerker."

Dr. Jankowsky hatte unter etwas schweren Lidern hervor wie über eine weite Ebene gesehen. Ich fand seine Augen schön. "Aber da bringen Sie sich doch um viele Genüsse, Herr Lemke", sagte er jetzt langsam. "Erbsen, Kartoffeln und Schweinefleisch als Eintopf zusammen gekocht oder Schweinekopf mit Sauerkraut."
"Dass sie von dem Sauerkohle, eine Portion sich hole ..."14 Tiny ersparte einem nie naheliegende Zitate.
Die Mama hatte bei der Aufzählung von Dr. Jankowskys Menü liebenswürdig gelächelt und innerlich leise geschaudert. Von einem ganzen Schweinekopf in einer Sauerkrautschüssel hatte Ali einmal nach einer Reise erzählt, wie man von den Essitten fremder Völker spricht. "Ja, bester Herr Dr., das sind so richtige ostpreußische Gerichte vom Lande. Ich fand hier alles so sehr fett, als ich von Stuttgart herkam, und die vielen Kartoffeln, die zu allem dazu gehörten! Wir waren zu Hause 14 Kinder, aber es gab nur zweimal in der Woche Kartoffeln, Pellkartoffeln." "Und wovon wurden denn die vielen Kinder satt?" "Da gibt es doch Nudeln und Spätzle15 und Knöpfle." "Von Spätzlein habe ich schon gehört. Sie sollen, ehrlich gesagt, nach nichts schmecken. Aber was sind denn Knöpflein?" "Knöpfle sind Klöße; ja zuerst fand ich keinen Anklang hier mit meiner schwäbischen Küche; nicht bei meinem guten Mann. Der ging überhaupt auswärts mit mir essen als ich noch keine Kinder hatte und wir in Neuhäuser wohnten. Im Restaurant ließ ich allerdings das Kotelett erst auf der Papierserviette abtropfen, ehe ich es essen mochte." "Vielleicht wollte Ihr Gatte wegen der Knöpflein lieber auswärts essen." "O nein, ihm war alles recht, wie ich es machte, aber ich hatte mich bei den Zurichtungen so alteriert und echauffiert, dass er mir die Mühe sparen wollte.
Schwierig war nur das Personal. Als ich einmal in die Küche komme, steht da die große Person und hat die guten Schwedenknöpfle, wissen Sie, erkaltete, wie in Scheiben geschnittener Griesbrei in der Pfanne gebraten".
Ich dachte still für mich, dass Jankowsky dies Rezept wohl ebenso seltsam vorkäme, wie der Mutter der Schweinekopf. "Ja, die guten Schwedenknöpfle," fuhr die Mutter fort, "die hatte sie nicht einmal angerührt. Sind sie krank?" frage ich. "O nein," antwortet die dumme Gans ganz verächtlich. "Damit will ich mir erst gar nicht den Appetit aufrühren." -

"Sie wohnten zuerst in Neuhäuser, gnädige Frau?" "Es war unser Kinderparadies." "Ja, Fräulein Marie, es war ja eine Gründung der Koenigsberger Kaufleute; nach Neuhäuser konnten die Herren nach Büroschluss verhältnismäßig schnell hinkommen. Mein Mann brachte mich auch nach Neuhäuser, weil in unserem ersten Ehejahr in Koenigsberg die Cholera16 herrschte. Er selbst ging wie immer ruhig seiner Arbeit nach. Er war ja nicht für's Heldische und Gewalttätige - ".
"Oho, liebe Mama, heldisch und gewalttätig darfst du nun wirklich nicht in einem Atemzug nennen; der Heros im antiken Sinne17 ..." "Ja, ja bester Wilhelm, du magst schon recht haben; jedenfalls war mein Mann nicht für Streit und Krieg, aber in Zeiten der Gefahr ging eine wundervolle Ruhe von ihm aus. 'Bei Seuchen', sagte er, ist die größte Gefahr schon gebannt, wenn man der Furcht keinen Raum gibt. Ich fühlte mich bei ihm auch so geborgen, dass ich das Gefühl hatte, mir könne nichts passieren und so konnte ich nicht widerstehen, als ich wundervolle und natürlich sehr billige Birnen sah. Ich aß sie roh, weil ich gerade so durstig war, mir wurde bald danach entsetzlich schlecht, aber dann hat es mir doch nicht weiter geschadet."

Alexander Eckhardt und Grete Eckhardt

Alexander Eckhardt und Grete Eckhardt

 

Ich setzte mich zu Ferdi Walter. "Es ist ganz reizend, Ferdi, dass sie heute gekommen sind. Wollen sie nicht morgen mein Brautführer sein? Nein, keinen Besuch und auch keine Blumen. Das ist zwischen uns doch nicht nötig; wir haben ja noch in der Tiergartenschlucht, die jetzt leider auch verbotenes Gebiet ist, Räuber und Soldat gespielt. Kommen sie morgen um 3 Uhr gleich zu Eckhardts, da ist Haustrauung, und Hilde (Doras Schwester) muss auch mit dabei sein."

Tante Greti Eckhardt hatte alles wunderhübsch für die Trauung geschmückt; sie tat es auch dem neuen Neffen Wilhelm zu liebe, der fast im gleichen Alter mit ihr war, und für den sie eine halb schwärmerische, halb mütterlich-sorgsame Zuneigung empfand, denn wie viele Frauen, die vor ihrer Ehe sehr zurückgezogen gelebt haben, war sie in einem versteckten Winkel ihres Herzens junges Mädchen geblieben.

Die Brautdamen: Dora Walter sehr schön, Mieze Heumann sehr elegant, Hilde sehr lieblich, Tiny sehr blond; ich war in hellblau. Es war Miezes Hochzeit und mein Ball.
Jankowsky hatte Dora wunderbare, langstielige Rosen gebracht; ich saß mit Ferdi zu seiner Linken. Er ließ sich von Dora ein Myrthensträußchen schenken und von mir ins Knopfloch stecken. "Ich komme mir vor wie Buridahls Esel.18" War das eigentlich sehr geschmackvoll? Dora und mir fielen ja dann die Rollen der Heubündel zu. Ich fand es originell.

"Fräulein Marie," rief Walter herüber, "haben sie die Welträtsel von Haeckel gelesen?" "Still, Walter, die Telegramme sollen gelesen werden, und außerdem wird dein Essen kalt." Er warf mir einen halb erzürnten Blick zu. "Walter ist der Haeckel im Karpfenteich." "Du, Onkel Alex." "Sehr gut."

"Wir wünschen dem jungen Paare,
Ungezählte glückliche Jahre.
v.Perbandt Langendorf und Pomedien"

"Sehr liebenswürdig von von Perbandts." Die Mama, die besonders von der mütterlichen Seite her einen langen, breiten, vornehmen Stammbaum hatte bis 1380 zurück mit vielen Adelsnamen und mit Schiller als Blutsverwandten, vergaß auch in Zusammenstellungen mit der Präposition "von" nie das Adelsprädikat, was wir dann den Doppeladel nannten.

Marie Lemke und Georg Bock
Das Brautpaar:
Marie Lemke und Wilhelm Bock

Ein griechisch abgefasstes Telegramm von dem Altphilologen Onkel Hugo Lemke, Gymnasialdirektor, Altertumsforscher und Dr.h.c., wurde Jankowsky zum Übersetzen gereicht. Er lehnte fast beleidigt ab. Georg las vor mit großen Handbewegungen: "Eu, moi - Stettin - ", Bravo und Händeklatschen. das Brautpaar griff mit einer Miene, die "Scherz beiseite" ausdrückte, sachlich interessiert nach den Telegramm. Miezel strich energisch ihren Schleier zurück und vertiefte sich vollständig in die Übersetzung.

"Sind sie nicht Humanist19?" fragte der lange Fritz Sehmsdorf Doras Tischherrn; er gehörte zu der eleganten Sehmsdorf Serie, Masur20 und angehender Regierungsassessor. "Diegroßen griechischen Buchstaben beherrsche ich jedenfalls nicht mehr." Ich fand das so angenehm unphilologisch. Ach, er gefiel mir über die Maßen, und während wir uns unterhielten,: "ich bin nicht für süße Sachen; zu Hause, in Eggleningken, buken sie Holunderblüten in Eierkuchenteig - Käuzchen sind ganz zutraulich; sie blieben immer sitzen und sahen mich altklug an, wenn ich zu ihnen hinaufkletterte unters Scheunendach" - und während wir tanzten - "er tanzt himmlisch" sagte Tante Greti mit ihrem Jungmädchenlächeln - und während wir auf der blumengeschmückten Veranda im großen Kreis und zugleich nach meinem persönlichen Gefühl ganz allein zusammen saßen - erbaute ich mir einen hübschen, kleinen Altar mit rosenbestreuten Stufen zum Knien, mit Lichtern und Weihrauchschalen und schuf mir mit Hilfe von sehr viel Literatur und sehr wenig Welt- und Menschenkenntnis ein Bild - halb Jörn Uhl21 und halb Niels Lyhne22 schon der vorgeneigten Haltung wegen, undeutlich und wechselnd durch Überschattung aus einer anderen, ganz fremden Welt und stellte es auch auf den bekränzten Altar.

In der Veranda stand eine leuchtend blaue Barock23schale mit Goldornamenten, in der Apfelsinen lagen. "Hilde, nimm doch noch eine Goldorange." Ich liebte solch kleine Anspielungen, aber Tiny mit ihrem guten Gedächtnis zitierte gleich Mignon24, wie immer heilig ernst mit schulgerechten Pausen, so dass ganze Zypressenhaine von gemalten Theaterkulissen um sie erwuchsen und die Zuhörer, die schließlich kein Billett25 für eine genau dosierte Portion Tragik gelöst hatten, sich leicht geniert fühlten.

Georg kam im Anschluss an die "Goldorangen im dunklen Laube" auf Opern zu sprechen. "Sie sind ja wie meine Schwester Elisabeth. Sie macht sich auch nicht viel aus den hübschen alten Spielopern26. Der Holländer27, Rigoletto28, Hans Heiling29, so ein bischen was Unheimliches ist ihr Ideal." "Aber Georg." Er ließ sich nicht stören.
"Wie heißt es doch:

Schaurig schön muss mein Gatte sein,
Was Dämonisches muss er haben."

"Der Dämon30 ist immer die Frau", sagte Walter mit düsterer Stimme, "nach Nietzsche31 ist der Mann gut und die Frau das Raubtier mit Krallen."

Jankow kniff ein Auge zu und zog die Mundwinkel noch etwas mehr herunter. Ich fand das interessant. "Herr Walter, nein, nicht sie, Ferdi, sie haben wohl noch nicht solche blutrünstigen Vorstellungen, ich meine Herrn Walter Lemke; fühlen sie sich hier von Raubtieren umgeben?" Walter saß mittendrin in diesem rosa-weiß-blauen Kreis, aber er war nun einmal nicht zu halten - "Gehst Du zum Weib - "32 aber er kam nicht weiter, wir lachten ihn aus; sein offenes, ernstes Gesicht war zu hübsch und harmlos. "Ja, die Frauen", sagte Onkel Alex, der am Türpfosten der Veranda lehnte, er hatte noch immer seinen liebenswürdigen blitzblauen Schwerenöter33blick von der Seite her, "jetzt wollen sie sogar das 'untertan sein' aus der Trauformel streichen. Ich frage mich, wie soll das enden?!"

"Kann man sich hier einmal zu der Jugend setzen?" fragte Frl. Wermke, der Frl. Janzen auf dem Fuß folgte, die ein dunkelrotes, großblumiges Seidenkleid anhatte, dessen Schnitt unweigerlich an "Lavendel, Myrthe und Thymian" erinnerte. Dr. Jankowsky stand auf, um die beiden alten Dämchen vorbei zu lassen. Frl. Wermke in hübschem, schwarzem Seidenkleid mit Spitzen, das sie sehr zierlich erscheinen ließ, sah zu ihm auf mit einem halb spöttischen Blick, wobei sie den Mund nach ihrer Gewohnheit auf einer Seite etwas in die Höhe zog. "Nur gut, dass sie jetzt nicht gerade auf Jagd gehen, Herr Dr., es heißt doch, man schießt nichts, wenn einem alte Weiber über den Weg laufen."

"O, sagen Sie das nicht, mein verehrtes Fräulein, ich habe die Erfahrung gemacht, dass alles Unangenehme und Hinderliche und Greuliche - na, ja - von den jungen Weibern kommt," die Herren klatschten begeistert Beifall, während die Damen in ihren durch Jugend und Schönheit geschaffenen, uneinnehmbaren Positionen nachsichtig lächelten; "und alles Gute und Hilfreiche von der Magd angefangen, die einem die Risse stopfte und den Tanten, die einem gute Bissen zusteckten, das kam von den alten Weibern! Ich bitte daher alle Anwesenden einzustimmen in den Ruf: Ein Hoch den alten Weibern!"
Das fanden nun auch die anderen nett.

Frl. Janzen streichelte Tinys Hand. "So still, Tilchen?" "Man kommt ja nie zu Wort, Frl. Janzen." "Nun ja, wo 4 Lemkes zusammen sind, sprechen immer 5, riefen gleich zwei Gäste aus dem Hintergrund. "Ist das nicht doch etwas übertrieben?"
Es schwirrte und lachte alles durcheinander, als eine verspätete Depesche34 eintraf, die von Onkel Alex mit eindringlicher Betonung sehr deutlich verlesen wurde. "Lemchen, schrei nicht so. Willy." Das gab ein großes Hallo, und die Depesche mit ihrer Mahnung wurde immer wieder zitiert, wenn ich nur den Mund aufmachte. Herr v.Perbandt erzählte mir nach der Rückkehr, dass er Willy vor dem Abschicken dieser Depesche gewarnt hätte, da sie ja von Langendorf aus die Stimmung nicht beurteilen könnte und ich vielleicht gerade sehr still sei.
"Es passt bestimmt", hatte sie gesagt und war zum Telefon geeilt.

Es war spät, als wir von Eckhardts dankend Abschied nahmen.
"Da ist noch eine Apfelsine. Wer will sie mitnehmen?" Dr. Jankowsky griff danach und hielt sie mir hin - und von allen bunten Bildern dieses Tages blieb mir am stärksten in Erinnerung eine goldene Frucht, mir dargeboten von einer schlanken Hand.


[Die Fotos wurden von mir, an den passenden Stellen eingesetzt.]


1 Myrte (Myrtus communis), auch Brautmyrte und Gemeine Myrte genannt, ist ein immergrüner Strauch aus der Familie der Myrtengewächse (Myrtaceae). *)

2 Fritz Oliven (* 10. Mai 1874 in Breslau;† 30. Juni 1956 in Porto Alegre, Brasilien) war ein deutscher Jurist und Schriftsteller.
Unter dem Pseudonym Rideamus wurde der in Berlin lebende jüdische Rechtsanwalt zu einem Erfolgsschriftsteller. Seine humoristischen Bücher erreichten Höchstauflagen. Als Lyriker, Librettist und Revuedichter arbeitete er mit Oscar Straus, Walter Kollo und Eduard Künneke zusammen und textete für die großen Haller- Revuen. Aus seiner Feder stammen u. a. die Operette »Der Vetter aus Dingsda« und die Revue »Noch und noch«. Im Jahre 1939 emigrierte er nach Brasilien. 1951 erschien die Autobiographie »Rideamus. Von ihm selber. Die Geschichte eines heiteren Lebens«. *)

3 Wahrscheinlich: Jákup Jakobsen (1864-1918, eigentlich Jakob Jakobsen), färöischer Linguist *)

4 Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal, genannt Hugo von Hofmannsthal (* 1. Februar 1874 in Wien; † 15. Juli 1929 in Rodaun bei Wien) war ein österreichischer Schriftsteller, Dramatiker, Lyriker, Librettist sowie Mitbegründer der Salzburger Festspiele. *)

5 Ernst Heinrich Philipp August Haeckel (* 16. Februar 1834 in Potsdam; † 9. August 1919 in Jena) war ein deutscher Zoologe, Philosoph und Freidenker, der die Arbeiten von Charles Darwin in Deutschland bekannt machte und zu einer speziellen Abstammungslehre des Menschen ausbaute. *)

6 Es ist mir nicht bekannt, wo das Bild sich heute befindet. Auf der Seite http://schaper.org/ahnen/lemcke/elisabeth/DiezweiteSchulzeit.htm findest Du ein Foto aus der Königsberger Wohnung, das das Bild zeigt.

7 In manchen evangelischen Landeskirchen Deutschlands (vor allem in ehemals preußischen Gebieten, z. B. Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen) bezeichnet Konsistorium die kirchliche Verwaltungsbehörde. Konsistorien entstanden im 16. Jahrhundert zur Ausübung des landesherrlichen Kirchenregiments, der landesherrlichen und bischöflichen Rechte der deutschen Fürsten über die protestantischen Kirchen, und waren bis zu dessen Aufhebung 1918 staatliche Behörden. Sie bestehen etwa gleichgewichtig aus Theologen und Juristen.

8 Richard Fedor Leopold Dehmel (* 18. November 1863 in Hermsdorf bei Wendisch Buchholz, Mark Brandenburg (heute: Gemeinde Münchehofe Ortsteil Hermsdorf), Landkreis Dahme-Spreewald); † 8. Februar 1920 in Blankenese) war ein deutscher Dichter und Schriftsteller.

9 Als Kapotthut wird meist jeder kleine, hoch aufgesetzte Hut aus Stroh, mit hoch stehender Krempe, die das Gesicht einrahmt, bezeichnet.
Den Kapotthut gibt aber es eigentlich nicht, denn der Kapotthut oder Kapotte entwickelte sich aus der Kapuze des Capote, einem Anfang des 19.Jahrhunderts üblichen Umhangs.
Aus dieser Kapuze entwickelte sich die Form eines Hutes, der die Ohren bedeckt und mit einer zusätzlichen Krempe ausgestattet war. In dieser Form ist der Kapotthut auch als Schute bakannt.

10 Als Biedermeier wird die Zeitspanne von 1815 (Wiener Kongress) bis 1848 (Beginn der bürgerlichen Revolution) in den Ländern des Deutschen Bundes inklusive des Kaisertums Österreich bezeichnet.
Der Begriff Biedermeier als Epochenbezeichnung entstand erst um 1900. Er geht zurück auf eine fiktive Figur namens Gottlieb Biedermaier, die der Jurist und Schriftsteller Ludwig Eichrodt und der Arzt Adolf Kußmaul erfanden und unter dessen Name in den Jahren ab 1855 in den Münchner Fliegenden Blättern diverse Gedichte veröffentlicht wurden, die teilweise Parodien auf die Poesie des realen Dorfschullehrers Samuel Friedrich Sauter waren. Entstanden war der Name aus zwei Gedichten mit den Titeln Biedermanns Abendgemütlichkeit und Bummelmaiers Klage, die Joseph Victor von Scheffel in diesem Blatt 1848 veröffentlicht hatte. Bis 1869 wurde Biedermaier geschrieben, erst danach kam die Schreibweise mit ei auf. Der fiktive Herr Biedermeier war ein dichtender schwäbischer Dorflehrer mit einfachem Gemüt, dem laut Eichrodt seine kleine Stube, sein enger Garten, sein unansehnlicher Flecken und das dürftige Los eines verachteten Dorfschulmeisters zu irdischer Glückseligkeit verhelfen. In den Veröffentlichungen werden die Biederkeit, der Kleingeist und die unpolitische Haltung großer Teile des Bürgertums karikiert und verspottet. *)

11 Anhänger von Ernst Haeckel

12 Auflagenstärkstes Buch Ernst Haeckels; wurde der Weltbestseller „Die Welträthsel“ von 1899 *)

13 Eine Anrichte oder Kredenz ist ein halbhoher, zwei-oder mehrtüriger Schrank zur Aufbewahrung von Tischdecken und Tafelgeschirr und einer Arbeitsfläche zum Anrichten von Speisen. Ein englisches Synonym ist "Sideboard" oder "Credenza desk". *)

14 Witwe Bolte in Wilhelm Buschs „Max und Moritz“

15 Spätzle (schwäbische Verkleinerungsform von Spatz [möglicherweise „Sperling“ meinend oder „Batzen, Klumpen“], als Wasserspatzen im 18. Jahrhundert belegt), auch Spätzli oder Spatzen genannt, sind schwäbische bzw. alemannische Teigwaren, die als Beilage oder mit weiteren Zutaten als eigenes Gericht serviert werden. In Baden, Bayern, Tirol und Vorarlberg werden sie häufig auch Knöpfle, in der Schweiz Knöpfli genannt. Im Schwäbischen verwendet man meist die Pluralform Spätzlâ bzw. Spatzâ. *)

16 Die Cholera (gr.: Gallenbrechdurchfall) ist eine schwere, bakterielle Infektionskrankheit, die vorwiegend den Dünndarm befällt. Sie kann extremen Durchfall und starkes Erbrechen verursachen . *)

17 Die männlichen Heroen, Singular der Heros (der Held) bzw. die weiblichen Heroinen, Singular die Heroine (die Heldin) sind Gestalten der griechischen und römischen Mythologie, meist halbgöttlicher Herkunft.

18 Keine Erläuterung gefunden – kannst Du helfen?

19 Humanismus ist eine aus der abendländischen Philosophie hergeleitete Weltanschauung, die sich an den Interessen, den Werten und der Würde insbesondere des einzelnen Menschen orientiert. Toleranz, Gewaltfreiheit und Gewissensfreiheit gelten als wichtige humanistische Prinzipien menschlichen Zusammenlebens. Die eigentliche Frage des Humanismus ist aber: Was ist der Mensch? Was ist sein wahres Wesen? Wie kann der Mensch dem Menschen ein Mensch sein?

20 ... aus Masuren stammend; Masuren ist eine Landschaft in Ostpreußen

21 von Gustav Frenssen (* 19. Oktober 1863 in Barlt, Dithmarschen; † 11. April 1945 in Barlt, war ein deutscher Schriftsteller. *)

22 von Gustav Frenssen (* 19. Oktober 1863 in Barlt, Dithmarschen; † 11. April 1945 in Barlt, war ein deutscher Schriftsteller. *)

23 Als Zeitalter des Barock wird die Stilepoche zwischen Renaissance und Klassizismus bezeichnet, die etwa von 1575 bis 1770 währte. Kunstgeschichtlich wird sie in Frühbarock (ca. 1600–1650), Hochbarock (ca. 1650–1720) und Spätbarock oder Rokoko (ca. 1720-1770) unterteilt. Als Kunstform des Absolutismus und der Gegenreformation ist der Barock durch üppige Prachtentfaltung gekennzeichnet. *)

24 Wohl eine Figur aus der Oper 'Mignon' (von Thomas Ambroise (* 5. August 1811 in Metz, † 12. Februar 1896 in Paris), war ein französischer Komponist. )
nach Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre; Libretto von Jules Barbier und Michel Carré *)

25 Eintrittskarte

26 Unter einer Spieloper verstand man im 19. Jahrhundert eine heitere Oper in der Nachfolge des Singspiels. Im Unterschied zur Opera buffa enthalten Spieloper und Singspiel keine Rezitative, sondern gesprochene Dialoge. Eine Spieloper war in der Regel eine Oper mit lustspielartiger oder sentimentaler Handlung und leichter, gefälliger Musik, in Abgrenzung von der ernsten Oper. *)

27 Der Fliegende Holländer ist eine romantische Oper in 3 Akten von Richard Wagner, die 1843 uraufgeführt wurde. *)

28 Rigoletto (ital. „Spaßmacherlein“) ist eine tragische Oper in drei (nach Wagner, Die Oper: vier) Akten von Giuseppe Verdi aus dem Jahr 1851. *)

29 Hans Heiling ist eine romantische Oper mit gesprochenen Dialogen in drei Akten von Heinrich Marschner, nach einem Libretto von Philipp Eduard Devrient, der auch die Titelrolle in der Uraufführung sang. Diese erfolgte am 24. Mai 1833 an der Berliner Königlichen Hofoper. *)

30 Ein Dämon (von griech.: das [übernatürliche] Wesen, aber auch sächlich das Genie) ist ein Fabelwesen. *)

31 Friedrich Wilhelm Nietzsche (* 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen; † 25. August 1900 in Weimar) war ein deutscher Philosoph und klassischer Philologe. *)

32 "gehst du zum Weib, vergiss die Peitsche nicht" wurde von Nietzsche einem alten Weiblein in den Mund gelegt.

33 Herzensbrecher

34 ein Telegramm, wobei der Begriff Depesche (von frz. dépêcher – beeilen; oder auch genauer: „telegraphische Depesche“) vom Begriff Telegramm abgelöst wurde. *)


(Einige der Fußnoten wurden zitiert*) aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/ )

 

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2006
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Letzte Aktualisierung: 10.11.2007