Die zweite Schulzeit (Herbst 1907 - Ostern 1910)

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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So konnte es unmöglich weiter gehen! Ich hatte bei Perbandts fast drei, im ganzen doch schöne Jahre verbracht, in Bendiglauken1 1½; ich war nun 24 Jahre alt und hatte keinen festen Boden unter den Füßen, denn mit dem „Sprachexamen“ war doch gar nichts Rechtes anzufangen. Freilich, wenn ich das Volksschulexamen machte, hatte ich die volle Ausbildung als Lehrerin; das würde ja für eine Lebensstellung genügen. Ja, aber das Rechnen, das mir schon in der Schule das Leben verbittert hatte! Als ich mir um Ostern 1907 das alles überlegte, sah ich die Abiturienten mit roter Mütze und vielen Alberten2 geschmückt durch Königsbergs alte Straßen wandeln.

3„So leb denn wohl Gymnasium,
Ich scheide ohne Tränen,
Ich trieb mich lang genug herum
In deinen grauen Mauern.
Du sollst mir stets in Ehren sein,
Doch bringt kein Pferd mich mehr hinein -
O jerum, jerum, jerum,
O quae mutatio rerum“4 *)

sangen sie und dann noch:

„Des Wissens Hintergrund Latein
Ergriff ich noch begierig,
Französisch hinkte hinterdrein
Und Griechisch war sehr schwierig.
Doch schaffte tiefstes Missgeschick
Die Teufelskunst: Mathematik!“

„Und wie wurden Sie fertig mit der Teufelskunst?“
„Ach, man sagt sich vor, man schreibt ab.“
„Und beim Examen?“
„Man kompensiert.“

Kompensieren, ja, das leuchtete mir ein. In Sprachen war ich sicher besser, als die meisten dieser auch nicht immer übermäßig intelligent aussehenden Jünglinge, Deutsch, Geschichte – ich würde es schon schaffen - und in Mathematik und den Naturwissenschaften würde ich mich eben blamieren, nur nicht „Bürgerliches Rechnen“ bei Bultmann, von dem Rose und Dora Schreckensgeschichten erzählten.


Wenn ich erst das Abitur hatte, fragte kein Mensch mehr nach verbogenen Schularbeiten. Außerdem hatte ich es ja nun in meiner Hauslehrerzeit erfahren, dass selber lernen immer noch einfacher ist, als erfolgreich zu unterrichten. Mein Entschluss war gefasst: ich würde im Herbst nach Königsberg gehen, mit Georg zusammen wohnen, Stunden geben und Stunden nehmen.

Ich war nun also frei!
Zum ersten Mal in meinem Leben völlig Herrin meiner Zeit, meiner Entschlüsse und meiner sehr beschränkten Mittel. Aber ich war schlecht vorbereitet für die Freiheit. Ich hatte fremde Sprachen gelernt, Quadrille5 und Gavotte6 in der Pension, auch den Hofknicks geübt; ich konnte mich gesellschaftlich sicher bewegen, Konversation machen und aus einem angeborenen Instinkt heraus – wie viele Magister hatte es in der Eckhardtschen Ahnenreihe gegeben, wie viele Schulmeister in der Sehmsdorf-Lemkeschen - „Kindern bis zum vollendeten 11. Lebensjahr“, wie es in meinem Erlaubnisschein hieß, Unterricht erteilen.


Ich wusste nicht, wie man Strümpfe wäscht, wie man eine Bluse plättet und wie – um Himmelswillen man ein Ei aus der Schale bringt, ohne ein Durcheinander von Dotter, Eiweiß und Schale in der Pfanne zu schaffen. Die Perlgraupe, von der ich ein Pfd. Für Georg und mich zu Abendbrot kochen wollte, schwoll immer mehr an; je mehr Wasser ich zugoss, desto mehr quoll sie auf, sie kochte über, ich musste ein größeres Gefäß nehmen, aber auch das reichte nicht, wie beim Hirsebrei im Märchen, und wiederum der Spinat, von dem ich – klug geworden – 1 Liter für uns gerechnet hatte, verschwand, war einfach nicht mehr da, und im Kochtopf blieben nur ein paar Stengel, in ein wenig grün gefärbter Flüssigkeit zurück.


Georg und ich bewohnten eine 3-Zimmerwohnung im Hinterhaus Mozartstr. 37. Sie war wahllos mit dem Strandgut eingerichtet, das man nach dem großen Zusammenbruch und nach Miezels [Schwester Marie] Einrichtung in Tilsit übrig geblieben war. Im obersten Fach des kleinen braunen Büfetts aus der ersten Aussteuer meiner Mutter, das uns dann in Genslack noch gute Dienste geleistet hatte, standen Fläschchen mit Kirschsaft, den Amalie im Sommer noch eingekocht hatte. Sie hatte mich nicht verlassen und mit mir wirtschaften wollen.


Ach, wie herrlich, wie sorglos hätte ich dann leben und lernen können! Ich hatte noch mit ihr zusammen die Wohnung besichtigt und im Geist alles eingerichtet. Ein schönes Stückchen trockenes, sauberes Holz, das noch von den Handwerkern – es war eine ganz neue Wohnung – herumlag, hatte sie vorsorglich zum ersten Feueranmachen in den Herd gesteckt. Und nun, wo ich sie so nötig brauchte, war sie schwer erkrankt, war selten bei klarem Verstand, fragte aber oft – aus anscheinend tiefer Bewusstlosigkeit heraus – nach dem Datum des Tages und wusste alle Familiengeburtstage.
Ich musste mir also eine Hilfe suchen, es war sehr schwer, eine passende zu finden. Die Aufwartfrauen7 bestahlen mich schamlos, sie waren unsauber oder kamen nicht pünktlich. Noch lange, als ich schon verheiratet war, lag mir beim Anblick einer winterlich kalten, schon dämmerigen Küche ein unbewusster Schrecken in den Gliedern: die Hilfe kam nicht – die Zimmer würden unaufgeräumt bleiben – ich musste ja fort, Stunden geben, Stunden nehmen – dann hörte ich den Schnäpper im Schloss – Gott sei Dank! Die Hilfe kam und heizte und machte Kaffee; sie brachte 2 Scheiben Filet mit zu Mittag. Filet war so teuer; es gab Filet immer am Freitag, wenn ich Stunden wegen bis zum Abend in der Stadt blieb und das Mittagessen meist überschlug. Ich hätte ja zu Heumanns, zu Frau Konsul Theodor, zu Fräulein Wermke hegen können, aber dann war es eine gesellschaftliche Angelegenheit, die Zeit kostete.


Die Hausfrauen gaben mir gute Ratschläge. Freu Heumann wusste von einem unbedingt zuverlässigen Mädchen, der man beim Fortgehen nur zu sagen brauchte, sie solle „etwas recht „Nettes“ zum Essen bereit halten; das genügte, um bei der Heimkehr tatsächlich etwas recht Nettes vor zu finden; das Mädchen wollte nur gerne ihr kleines Kind mitbringen; Frau Geheimrat Falkenheim besann sich auch, wie mir zu helfen wäre. Sie nannte mir Gerichte, die ich für den nächsten Tag schon am Abend vorher fertig stellen konnte – sie ahnte ja nicht, dass schon das Abwaschen eines fettigen Tellers ein Problem für mich war und Feueranmachen eine gänzlich vom Zufall abhängige Angelegenheit noch in Neidenburg und Bromberg. Wie oft war es die Freude der kleinen, einjährigen Urte, mir beim Heizen zuzusehen. Beim letzten Fünkchen rief sie „Aus“, und klatschte freudig in die Händchen, weil doch nun ein zweites Streichholt angezündet werden musste. Wie oft habe ich bei solchen Gelegenheiten ungläubig an die Lesebuchgeschichte gedacht, in der erzählt wird, wie ein kleines Fünkchen genügt hatte, um die halbe Zimmereinrichtung in Brand zu setzen, so dass die geschädigten Eltern – als Nutzanwendung für die Leser – dann nichts zu Weihnachten kaufen konnten. Jetzt wird es mir selber schwer, mich in diese Schwierigkeit jener Zeit hinein zu versetzen, jetzt in der Zeit der Werkstudenten, in der Zeit der berufstätigen Hausfrau.


Einzelne Künste versuchte ich ja, schon Georg zu liebe z.B. Brotbacken. Die Aufwartefrau, die ich damals gerade hatte, zeichnete auf meinen Teig ein Kreuz, das müsse so sein, erklärte sie mir, damit das Brot gut würde und gesegnet sei. Das war aber so ziemlich das einzige, was sie vom Brotbacken verstand. Die Bäcker lachten, als sie das Brot holte. Es war Kruste, nichts als Kruste. Kruste oben und Kruste unten mit einer dünnen Schicht weichen Brotes dazwischen. Georg war begeistert; das Krustenbrot blieb für ihn ein ersehntes, nie mehr erreichtes Brotideal.


Auch sonst nahm Georg im ersten Winter meine Zeit ziemlich in Anspruch. Er er wollte Spanisch lernen, aber nur wenn ich mitmachte. „Quo vadis“8 hatten wir in den Ferien zusammen mit Ottilie auf spanisch gelesen; es war ja eine so leichte Sprache – halb lateinisch und halb französisch – aber nun sollte es gründliche betrieben werden mit einem Lehrer von der Berlitz School, einem kleinen, überlebhaften, dunkelhäutigen Spanier. Er war Dolmetscher bei einer Abordnung von Spaniern gewesen, die sich zu bestimmten, volkswirtschaftlichen Studien eine Zeitlang in Königsberg aufgehalten hatten. „Und wie hat's Ihnen hier gefallen, in dieser für Sie so fremden Gegend in dieser verlassenen Ecke?“ Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, in den dunklen Augen hüpften blanke Pünktchen, und er lächelte mehr in den Augenwinkeln als mit dem Mund. „Oh, muchissimo“, strahlte er ein wenig hinterhältig.


Königsberg schien mir eine ganz fremde Stadt. Das musikalische Viertel, in dem man so leicht Schubert- und Schumannstraße verwechselte, die Markthalle, in der Tiergartenstraße, waren neu hinzugekommen, man gehörte keinem festen Kreis mehr an wie einst in der Schule, dem Seminar, den Freunden des Elternhauses. Ich sah von meinem Schreibtisch aus, dem jetzt so altmodisch gewordenen Schreibtisch meines Vaters zum gegenüber liegenden Haus hinüber, wo im 1. Stock hinter gelben Gardinen ein wohlaufgeräumtes Schlafzimmer so gutbürgerlich und ordentlich anmutete, wo ein Vorgarten zwischen blühenden Ziersträuchern an Sonntag Nachmittagen Napfkuchen und Fladen aufgetischt wurden. Ein junges Mädchen aus guter Familie, das für sich ohne rechten Familienhintergrund wohnte und aufs Ungewisse hin studieren wollte, war damals etwas so Ungewohntes.


Und die Freundinnen? Von Mieze Heumann fand ich beim Einzug wunderbare rosa Rosen mit der Nachricht, dass sie sich mit dem Gerichtsarzt Dr. Curt Strauch verlobt habe. Rose war an unserer alten Schule als Lehrerin angestellt und wollte sich nach einigen Jahren zur Oberlehrerin ausbilden, was damals ohne Abitur zu schaffen war, weil akademisch gebildete weibliche Lehrkräfte für die nach neuen Plänen eingerichteten Lyzeen gebraucht wurden. Die Pläne waren am grünen Tisch gemacht und ließen sich dann in der Praxis nicht gleich verwirklichen. Bei Rose war ich an den Freitagen manchmal zu Tisch; ihre Mutter war so freundlich, und Rose hielt mich nicht auf; sie hatte selbst viel zu tun. Wenn ich sie manchmal unterwegs traf und doch ein wenig Lust zum Erzählen hatte, verabschiedete sie sich meistens schnell. „Meine Hefte schreien nach mir.“ Dora war in die Sphäre der verheirateten Frau entrückt.

Jetzt war da kein schmales Zimmerchen mehr, wo über einem einfachen, kleinen Tisch Bilder mit Reißzwecken befestigt waren; die beiden Köpfe im Profil auf dem Mond, die sich küssen, aus der „Jugend“9 ausgeschnitten, Landschaften aus Kunstmappen, das Photo einer angebeteten, baltischen Kusine.

Jetzt hatte Frau Schmidt, geb. Walter eine schöne Wohnung auf den Hufen in der Steinstraße. Schon das Türschild war nicht mehr ein Porzellanoval mit schwarzer Schrift oder luxuriöser aber ganz schlicht in Messing; ihres war von einer Kunstgewerblerin entworfen und zeigte in Messing eingraviert zwei Heuschrecken, die mit den Köpfen an einander stießen.


Das Herrenzimmer hatte Professor Schmidt schon als Junggeselle gehabt. Es war erdrückend kostbar mit Klubmöbeln, dem großen Perser, Gemälden und Bronzen. Und hier und in Doras Zimmer Kissen eins immer schöner und künstlerischer als das andere. Roses Photographie – in Kopenhagen hatten wir sie „Blomster“ „Blümchen“ genannt – stand in einem Rahmen aus Kopenhagener Porzellan – weiß mit rosa Streublümchen. Ganz stilvoll. Ich mochte nicht hingehen.

Professor Gerhard Schmidt, den ich später schätzen lernte, war so vollkommen uninteressiert, was gerade durch seine gleichgültige Höflichkeit besonders zu merken war. Von Pomedien her war ich die chevalereske10 Art à la Rokoko auch der alten Herren gewöhnt. Nein, ich hatte keine Stimmung, Dora aufzusuchen.

Das Alte war vergangen, und Neues noch nicht gewachsen und dazu kam die Selbstsucht des jungen, so ganz in die eigenen Nöte und Wünsche eingesponnenen und hilflos Einsamen. Da fand ich eines Nachmittags bei der Heimkehr einen dicken Veilchenstrauß an der Türe hängen und wusste gleich, dass er nur von Dora sein konnte. Wie oft hatten wir zusammen auf den Wällen Veilchen gesucht. Noch am selben Abend war ich bei ihr und wurde wegen meines nun auf einmal prompten Kommens mit milde verzeihendem Lächeln begrüßt. Als ich nach Hause ging, hatte ich die Adresse der früheren Aufwartung von Prof. Schmidt in der Tasche. Diese Frau Koslowski machte dem glanzvollen Zeugnis von Schmidt alle Ehre. Sie war wirklich eine Perle und hat mir ein ganzes Jahr lang sehr geholfen. Dann konnte sie eines leichten Schlaganfalles wegen nicht mehr kommen, und die alte Not begann. Ich brauchte im letzten Jahr mehr als je eine zuverlässige Hilfe.

Meiner Mutter sagte ich nichts von meinen Nöten. Aus der schlanken, eleganten Mama war die Großmutter geworden. Mit der ihr eigenen Elastizität hatte sie sich aus dem Zusammenbruch ihrer Existenz auf Neuland gerettet und lebte bei Bocks im Rastenburger Schülerheim ganz in den Enkeln. Sie kam ganz selten heran wie zu einem flüchtigen Besuch, wenn sie in Königsberg etwas zu tun hatte.

An einem köstlichen Sommermorgen sann ich nach, was zu tun sei. Ich war vergeblich bei verschiedenen Stellenvermittlerinnen gewesen, hatte vergeblich mehrmals annonciert. Nichts anderes wünschte ich mir jetzt als eine freundliche, zuverlässige Seele, die kochen konnte, nichts anderes konnte mich erfreuen, kein Buch und kein Geld, um Himmelswillen kein Besuch, nicht einmal ein wirklich lieber Brief von Jankow, auch nicht sein Besuch. Er war einmal kurz dagewesen, und wir hatten an einander vorbei geredet. Allerdings war Ottilie gerade bei mir, die unbewusst eifersüchtig jede seiner Annäherungen verfolgte. Ich konnte natürlich nicht ganz frei in ihrer Gegenwart sprechen, aber ihr ostentatives Draußenbleiben war vielleicht noch hemmender. Sie hatte nicht die Gabe, es unauffällig oder ganz offen, in jedem falle freundlich zu machen. Als er die Treppe hinunter ging, hörte er sie noch fragen: „Und was hast Du nun von seinem Kommen?“ Er teilte es mir unangenehm berührt in seinem nächsten Brief mit.

Im Winter 1908 hatten wir uns häufig geschrieben. Aber nun war ich dieser Briefe mit ihren wechselnden Stimmungen, ihren schrulligen Plänen, ihrer rücksichtslos-egozentrischen Stellung zu Welt und Menschen so herzlich müde, nicht zuletzt wegen deer seelischen Unruhe, die sie mir brachten.

Als ich so saß und sann, klingelte es; also wohl doch ein Brief. Ich ging langsam zur Tür. Da stand Amalies Schwester vor der Tür und neben ihr ein hübsches, freundliches, blondes Mädchen, das sie als ihre Nichte und meine künftige Hilfe vorstellte. Die Gute wusste um meine Nöte und hatte alles getan, um mir zu helfen. Schon am nächsten Tag wollte Auguste morgens um ½ 7 Uhr kommen. „Aber, bitte, pünktlich.“
Sie hatte eine Schlafstelle zwei Häuser weiter bei einer Freundin, war also im Fall der Not jederzeit zu erreichen. Ich atmete auf. Ich konnte im ersten Augenblick gar nicht an mein Glück glauben. Nun hatte ich wirklich Ruhe zur Arbeit, eigentlich schon zum Endspurt, denn nach ¾ Jahr war schon das Abitur.

Vor dem Eintreffen der Hilfe hatte ein schweres Jahr gelegen, denn Ostern 1908 überlegte ich mir rückblickend, dass ich meinem Ziel nur wenige Schritte näher gekommen war.


Für Latein hatte mir Wilhelm Bock einen früheren Schüler empfohlen, der ganz auf meine Art einging. Sexta und Quinta hatte ich ja nun durch das Unterrichten eisern gelernt, was bei Hoffmanns genialen Stunden, der nach dem 1. Vierteljahr mit dem Gallischen Krieg und Ovid losgelegt hatte sehr angebracht war. Jetzt beherrschte ich auch Livius; für Latein war schon nach dem ersten Winter nicht mehr viel zu tun; das unüberwindlich Schwierige waren die Naturwissenschaften und Mathematik. Jetzt half wieder Dora, mit der zusammen ich bei ihrem Mann Experimentalphysik hörte; leider kam er nach einem Semester nach Münster; ich hörte dann noch bei Kaufmann.

Die 25 Mark für Kolleggelder waren nicht leicht zu beschaffen. Schmidt hatte nichts genommen. Nun hatte ich wenigstens Experimente gesehen, aber ohne Mathematik blieb mir natürlich das meiste unverständlich. Bei Tangenten prägte sich mir der Satz sina / cosa = tga rein mechanisch eisern ein, aber wenn ich dann im Lexikon, um mich zu orientieren, „sinus“ aufschlug, und Sinus, sinus = Bausch, Gewand fand, merkte ich, dass ich die Weiche falsch gestellt hatte, aber aus dem mathematischen Kreisbild wurde ich auch nicht klug.

Die Studentchen, bei denen ich einige Stunden nahm, sagten auf meine Fragen, was mir wie abra kadabra klang und fingen weit ausholend mit dem Quarta-Pensum an, so dass ich hoffen konnte, bei ihrer Art des Vorwärtsgehens in einem Jahr den Pythagoras zu erreichen, womöglich sogar zu beherrschen. Einmal half auch Helene Eichler, die ich in den Anlagen vor dem Steindammer Tor traf, und die mir die trigonometrischen Funktionen in aller Eile als Proportionen erklärte.

Ich habe meine sehr flüchtig erlernte Mathematik so richtig vergessen, dass ich nicht mehr genau weiß, wie es zuging, aber ich erinnere mich, dass sich mir vieles glückhaft klärete. Seitdem hielt ich Ausschau nach einer Studentin, die nicht die Ochsentour der Jungen hatte machen können, sondern die auf sich selber angewiesen war.

Es war mittlerweile Juli geworden, Juli 1908, da hatte ich an einem sonnigen Nachmittag gleich zwei glückhafte Begegnungen.
Zuerst traf ich Gertrud Reubekeul, die ich von Tilsit her flüchtig kannte. „Fräulein Reubekeul", rief ich fröhlich aus und hielt mich nicht mit Einleitungen auf, „wie machen Sie es mit Ihren Studien zum Abitur? Es ist ja unmöglich, es mit Privatstunden zu schaffen“. „Ich bin in einem Kursus bei Frl. Arnheim“. „Wie viele sind Sie? Können auch andere, ich meine Freunde, ich meine kann ich teilnehmen? Was kostet es? Wie weit sind Sie?“ „Ja“, sagte Gertrud Reubekeul lakonisch, und doch mit erschöpfender Beantwortung meiner Fragen, „ja, 20M monatlich – auf Obersekunda“. „Danke, auf Wiedersehen!“
Ich hatte sie auf der Schlossteichbrücke getroffen auf dem Weg nach Hause, und schon in der Nähe der Universität bemerkte ich die untersetzte Gestalt von Mieze Kado, deren rundlichen, verschwommenen Gesichtszügen man es gar nicht ansah, wie intelligent sie war. Sie baute das Studium nicht wie Rose und viele andere auf dem Lehrerinnenexamen auf, das zu ihrer Zeit nur zwei Seminarjahre verlangt hatte; sie hatte sich sehr schnell zur Reifeprüfung vorbereitet und studierte Englisch und Mathematik. Sie war die Richtige! Dass mirdas nicht früher eingefallen war! „Können Sie mir Mathematikstunden geben? Ich bin unbegabt für dies Fach. Ich muss nach den Sommerferien in einen Kursus eintreten, der auf Ober-Sekunda ist. Ich will mich nur mit Anstand blamieren; ich muss doch wissen, wo von die Rede ist, nicht wahr? Ich muss wissen, was ein sinus ist.“ Mieze Kado verstand mich vollkommen, besser als die Studentchen, die zum Quartapensum ein Jahr brauchten. Alle waren wohl nicht so, aber ich war ja schließlich zum schnellen Vormarsch kein ganz unzulängliches Objekt. Ich ging zweimal in der Woche zu ihr, in die kleine Lotsenwohnung, wo die unverkauften Bilder des Malersohnes Eduard hingen, der ein sehr gutes Bild meines Vaters gemalt hatte, das auch auf der Gemäldeausstellung einen Platz bekommen hatte. [Anmerkung: Eduard Kado11 hat 1899 auch Elisabeth gemalt.] Die Mutter war auch rundlich, der Vater hatte einen Schifferbart und bot einem die Hand mit einem Druck, der wohl nur nach seinen Begriffen zart war.

 

3 Gemälde von Eduard Kado, v.l.n.r.: Marie Lemke, Georg Friedrich Lemke, Elisabeth Lemke

3 Gemälde von Eduard Kado:
links Tochter Marie Lemke, in der Mitte Georg Friedrich Lemke, rechts Tochter Elisabeth Lemke

Ich lernte täglich 8 Stunden Mathematik und oft noch mehr, das schaffte ganz schön, und Ende Juli ging ich zu Frl. Arnheim.
„Ach, Sie sind die jüngste Tochter von Herrn Georg Friedr. Lemke. Ich besinne mich gut auf die schöne Erscheinung Ihres Vaters und in Neuhäuser auf die Reihe der kleinen Lemkes, wie die Orgelpfeifen. Wir fangen erst zwei Wochen nach Schluss der Sommerferien an, damit unsere jüngeren Mädchen sich recht erholen können. Werden Sie es schaffen? Ich meine körperlich? Sie sind ein wenig schmal und blass.“
„Ich denke doch“.

Am Tag vor Beginn des Kursus holte ich mir ein Buch aus der Leihbücherei – die Fortsetzung von „Asmus Sempers Jugendland“12, las auf einer Bank im Logengarten13, den jederzeit zu betreten ich noch vom Vater her das Recht hatte14; dann trieb ich den Luxus, eine Tasse Kaffee mit Kuchen zu bestellen. Jetzt galt es, einen hohen Berg zu ersteigen; mit allen persönlichen Wünschen war es von morgen an vorbei, wieder einmal endgültig vorbei mit der Freiheit.


1 Wenige Kilometer südlich von Tilsit gelegen.

2 Anstecknadel/Brosche der Studenten der Albertina (auch Albertus Universität Königsberg). Albertina war der Name der Universität von Königsberg, die 1544 von Herzog Albrecht gegründet wurde. *)

3 Umtextung des Studentenliedes „Oh alte Burschenherrlichkeit“ mehr >>>

4 O jerum, jerum, jerum, O quae mutatio rerum: Oh je, oh je, oh je, welche Veränderung der Dinge (wörtl. nach Agnes)

5 französischer Gruppentanz, der zur Zeit Napoleons I. in Paris entstand. Aus der Quadrille wurde später der Cancan, dessen Popularität bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts anhielt. *)

6 historischer Gesellschaftstanz. *)

7 Putzfrau

8 Quo vadis? ist eine lateinische Phrase mit der Bedeutung „Wohin gehst du?“. Den apokryphen Petrusakten nach begegnete der Apostel Petrus auf seiner Flucht aus Rom Christus und fragte ihn „Quo vadis, Domine?“ („Wohin gehst du, Herr?“) und erhielt zur Antwort „Venio Romam iterum crucifigi.“ („Nach Rom, um mich erneut kreuzigen zu lassen“). Daraufhin kehrte Petrus um, wurde in Rom gefangengenommen und gekreuzigt. Diese Situation wird in den apokryphen Evangelien des Paulus und der Thekla beschrieben.
Um diese Legende rankt sich der Roman Quo Vadis des polnischen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz sowie die darauf basierende US-amerikanische Verfilmung aus dem Jahr 1951, ebenfalls mit dem Titel Quo vadis?. 2001 entstand eine polnische Filmversion von Filmregisseur Jerzy Kawalerowicz. Im Jahre 2005 wurde für die Antikenfestspiele Trier ein gleichnamiges Musical komponiert, das am 16. Juni uraufgeführt wurde.
An der Via Appia, ein wenig außerhalb von Rom, wo die legendäre Begebenheit stattgefunden haben soll, steht heute die Kirche „Domine, Quo Vadis”. Hier wird neben der Kopie eines angeblichen Fußabdrucks Jesu (Original in San Sebastiano alle Catacombe) auch eine Büste Sienkiewicz' gezeigt. *)


9 Jugend - Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben war eine von Georg Hirth gegründete Kunst- und Literaturzeitschrift, die von 1896 bis 1940 in München erschien. Nach dem Tod Hirths wurde Franz Schoenberner zum Herausgeber. Chefredakteure waren u. a. Dr. Hans E. Hirsch, Dr. Theodor Riegler, Dr. Wolfgang Petzet.
Die Jugend war der Namensgeber der Kunstrichtung Jugendstil, was zeigt, wie wichtig das Heft für Kunst und Literatur der Jahrhundertwende war. *)


10 Die Anhänger der chevaleresken Attitüde nehmen die Werte der Umwelt ernst und bemühen sich nach ihnen erfolgreich zu sein *)

11 Eduard Kado (* 15. August 1875 in Memel; † 2. Januar 1946 in Lübeck) war ein deutscher Maler, Zeichner, Bildhauer und Kunstgewerbler. *) Wikipedia zu Eduard Kado

12 Geschrieben von Otto Ernst, eigentlich Otto Ernst Schmidt (* 7. Oktober 1862 in Ottensen bei Hamburg; † 5. März 1926 in Groß-Flottbek bei Hamburg); war ein deutscher Dichter und Schriftsteller. *)

13 Kleiner Park am Haus der Freimaurerloge „Zu den drei Kronen“.

14 Georg Friedrich Lemke war Mitglied des Bundes der Freimaurer. Angehörige haben Zutritt zu den Grundstücken der Freimaurer, ein Recht, das auch nach dem Tod eines Mitglieds nicht erlischt.


 

(Einige der Fußnoten wurden zitiert*) aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/ )  

 

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2007
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Letzte Aktualisierung: 23.07.2011