So konnte es unmöglich weiter gehen! Ich hatte bei Perbandts
fast drei, im ganzen doch schöne Jahre verbracht, in
Bendiglauken
1½; ich war nun 24 Jahre alt und hatte keinen festen Boden
unter den Füßen, denn mit dem „Sprachexamen“ war doch
gar nichts Rechtes anzufangen. Freilich, wenn ich das
Volksschulexamen machte, hatte ich die volle Ausbildung als Lehrerin;
das würde ja für eine Lebensstellung genügen. Ja, aber
das Rechnen, das mir schon in der Schule das Leben verbittert hatte!
Als ich mir um Ostern 1907 das alles überlegte, sah ich die
Abiturienten mit roter Mütze und vielen Alberten
geschmückt durch Königsbergs alte Straßen
wandeln.
„So
leb denn wohl Gymnasium,
Ich scheide ohne Tränen, Ich
trieb mich lang genug herum In deinen grauen Mauern. Du sollst
mir stets in Ehren sein, Doch bringt kein Pferd mich mehr hinein
- O jerum, jerum, jerum, O quae mutatio rerum“
*)
sangen sie und dann noch:
„Des Wissens Hintergrund Latein Ergriff ich noch
begierig, Französisch hinkte hinterdrein Und Griechisch
war sehr schwierig. Doch schaffte tiefstes Missgeschick Die
Teufelskunst: Mathematik!“
„Und wie wurden Sie fertig mit der Teufelskunst?“
„Ach, man sagt sich vor, man schreibt ab.“ „Und beim
Examen?“ „Man kompensiert.“
Kompensieren, ja, das leuchtete mir
ein. In Sprachen war ich sicher besser, als die meisten dieser auch
nicht immer übermäßig intelligent aussehenden
Jünglinge, Deutsch, Geschichte – ich würde es schon
schaffen - und in Mathematik und den Naturwissenschaften würde
ich mich eben blamieren, nur nicht „Bürgerliches Rechnen“
bei Bultmann, von dem Rose und Dora
Schreckensgeschichten erzählten.
Wenn ich erst das Abitur hatte, fragte kein Mensch mehr nach
verbogenen Schularbeiten. Außerdem hatte ich es ja nun in
meiner Hauslehrerzeit erfahren, dass selber lernen immer noch
einfacher ist, als erfolgreich zu unterrichten. Mein Entschluss war
gefasst: ich würde im Herbst nach Königsberg
gehen, mit Georg zusammen wohnen, Stunden geben und Stunden
nehmen.
Ich war nun also frei! Zum ersten
Mal in meinem Leben völlig Herrin meiner Zeit, meiner
Entschlüsse und meiner sehr beschränkten Mittel. Aber ich
war schlecht vorbereitet für die Freiheit. Ich hatte fremde
Sprachen gelernt, Quadrille
und Gavotte
in der Pension, auch den Hofknicks geübt; ich konnte mich
gesellschaftlich sicher bewegen, Konversation machen und aus einem
angeborenen Instinkt heraus – wie viele Magister hatte es in der
Eckhardtschen Ahnenreihe gegeben, wie viele Schulmeister in
der Sehmsdorf-Lemkeschen - „Kindern bis zum vollendeten
11. Lebensjahr“, wie es in meinem Erlaubnisschein hieß,
Unterricht erteilen.
Ich wusste nicht, wie man Strümpfe
wäscht, wie man eine Bluse plättet und wie – um
Himmelswillen man ein Ei aus der Schale bringt, ohne ein
Durcheinander von Dotter, Eiweiß und Schale in der Pfanne zu
schaffen. Die Perlgraupe, von der ich ein Pfd. Für Georg
und mich zu Abendbrot kochen wollte, schwoll immer mehr an; je mehr
Wasser ich zugoss, desto mehr quoll sie auf, sie kochte über,
ich musste ein größeres Gefäß nehmen, aber auch
das reichte nicht, wie beim Hirsebrei im Märchen, und wiederum
der Spinat, von dem ich – klug geworden – 1 Liter für uns
gerechnet hatte, verschwand, war einfach nicht mehr da, und im
Kochtopf blieben nur ein paar Stengel, in ein wenig grün
gefärbter Flüssigkeit zurück.
Georg und ich bewohnten
eine 3-Zimmerwohnung im Hinterhaus Mozartstr. 37. Sie war wahllos mit
dem Strandgut eingerichtet, das man nach dem großen
Zusammenbruch und nach Miezels [Schwester Marie] Einrichtung
in Tilsit übrig geblieben war. Im obersten Fach des kleinen
braunen Büfetts aus der ersten Aussteuer meiner Mutter, das uns
dann in Genslack noch gute Dienste geleistet hatte, standen
Fläschchen mit Kirschsaft, den Amalie im Sommer noch
eingekocht hatte. Sie hatte mich nicht verlassen und mit mir
wirtschaften wollen.
Ach, wie herrlich, wie sorglos
hätte ich dann leben und lernen können! Ich hatte noch mit
ihr zusammen die Wohnung besichtigt und im Geist alles eingerichtet.
Ein schönes Stückchen trockenes, sauberes Holz, das noch
von den Handwerkern – es war eine ganz neue Wohnung – herumlag,
hatte sie vorsorglich zum ersten Feueranmachen in den Herd gesteckt.
Und nun, wo ich sie so nötig brauchte, war sie schwer erkrankt,
war selten bei klarem Verstand, fragte aber oft – aus anscheinend
tiefer Bewusstlosigkeit heraus – nach dem Datum des Tages und
wusste alle Familiengeburtstage. Ich musste mir also eine Hilfe
suchen, es war sehr schwer, eine passende zu finden. Die
Aufwartfrauen
bestahlen mich schamlos, sie waren unsauber oder kamen nicht
pünktlich. Noch lange, als ich schon verheiratet war, lag mir
beim Anblick einer winterlich kalten, schon dämmerigen Küche
ein unbewusster Schrecken in den Gliedern: die Hilfe kam nicht –
die Zimmer würden unaufgeräumt bleiben – ich musste ja
fort, Stunden geben, Stunden nehmen – dann hörte ich den
Schnäpper im Schloss – Gott sei Dank! Die Hilfe kam und heizte
und machte Kaffee; sie brachte 2 Scheiben Filet mit zu Mittag. Filet
war so teuer; es gab Filet immer am Freitag, wenn ich Stunden wegen
bis zum Abend in der Stadt blieb und das Mittagessen meist
überschlug. Ich hätte ja zu Heumanns, zu Frau
Konsul Theodor, zu Fräulein Wermke hegen können,
aber dann war es eine gesellschaftliche Angelegenheit, die Zeit
kostete.
Die Hausfrauen gaben mir gute
Ratschläge. Freu Heumann wusste von einem unbedingt
zuverlässigen Mädchen, der man beim Fortgehen nur zu sagen
brauchte, sie solle „etwas recht „Nettes“ zum Essen bereit
halten; das genügte, um bei der Heimkehr tatsächlich etwas
recht Nettes vor zu finden; das Mädchen wollte nur gerne ihr
kleines Kind mitbringen; Frau Geheimrat Falkenheim besann
sich auch, wie mir zu helfen wäre. Sie nannte mir Gerichte, die
ich für den nächsten Tag schon am Abend vorher fertig
stellen konnte – sie ahnte ja nicht, dass schon das Abwaschen eines
fettigen Tellers ein Problem für mich war und Feueranmachen eine
gänzlich vom Zufall abhängige Angelegenheit noch in
Neidenburg und Bromberg. Wie oft war es die Freude der kleinen,
einjährigen Urte, mir beim Heizen zuzusehen. Beim
letzten Fünkchen rief sie „Aus“, und klatschte freudig in
die Händchen, weil doch nun ein zweites Streichholt angezündet
werden musste. Wie oft habe ich bei solchen Gelegenheiten ungläubig
an die Lesebuchgeschichte gedacht, in der erzählt wird, wie ein
kleines Fünkchen genügt hatte, um die halbe
Zimmereinrichtung in Brand zu setzen, so dass die geschädigten
Eltern – als Nutzanwendung für die Leser – dann nichts zu
Weihnachten kaufen konnten. Jetzt wird es mir selber schwer, mich in
diese Schwierigkeit jener Zeit hinein zu versetzen, jetzt in der Zeit
der Werkstudenten, in der Zeit der berufstätigen Hausfrau.
Einzelne Künste versuchte ich
ja, schon Georg zu liebe z.B. Brotbacken. Die Aufwartefrau,
die ich damals gerade hatte, zeichnete auf meinen Teig ein Kreuz, das
müsse so sein, erklärte sie mir, damit das Brot gut würde
und gesegnet sei. Das war aber so ziemlich das einzige, was sie vom
Brotbacken verstand. Die Bäcker lachten, als sie das Brot holte.
Es war Kruste, nichts als Kruste. Kruste oben und Kruste unten mit
einer dünnen Schicht weichen Brotes dazwischen. Georg
war begeistert; das Krustenbrot blieb für ihn ein ersehntes, nie
mehr erreichtes Brotideal.
Auch sonst nahm Georg im
ersten Winter meine Zeit ziemlich in Anspruch. Er er wollte Spanisch
lernen, aber nur wenn ich mitmachte. „Quo vadis“
hatten wir in den Ferien zusammen mit Ottilie auf spanisch
gelesen; es war ja eine so leichte Sprache – halb lateinisch und
halb französisch – aber nun sollte es gründliche
betrieben werden mit einem Lehrer von der Berlitz School, einem
kleinen, überlebhaften, dunkelhäutigen Spanier. Er war
Dolmetscher bei einer Abordnung von Spaniern gewesen, die sich zu
bestimmten, volkswirtschaftlichen Studien eine Zeitlang in Königsberg
aufgehalten hatten. „Und wie hat's Ihnen hier gefallen, in dieser
für Sie so fremden Gegend in dieser verlassenen Ecke?“ Er fuhr
sich mit der Zungenspitze über die Lippen, in den dunklen Augen
hüpften blanke Pünktchen, und er lächelte mehr in den
Augenwinkeln als mit dem Mund. „Oh, muchissimo“, strahlte er ein
wenig hinterhältig.
Königsberg schien mir eine
ganz fremde Stadt. Das musikalische Viertel, in dem man so leicht
Schubert- und Schumannstraße verwechselte, die Markthalle, in
der Tiergartenstraße, waren neu hinzugekommen, man gehörte
keinem festen Kreis mehr an wie einst in der Schule, dem Seminar, den
Freunden des Elternhauses. Ich sah von meinem Schreibtisch aus, dem
jetzt so altmodisch gewordenen Schreibtisch meines Vaters zum
gegenüber liegenden Haus hinüber, wo im 1. Stock hinter
gelben Gardinen ein wohlaufgeräumtes Schlafzimmer so
gutbürgerlich und ordentlich anmutete, wo ein Vorgarten zwischen
blühenden Ziersträuchern an Sonntag Nachmittagen Napfkuchen
und Fladen aufgetischt wurden. Ein junges Mädchen aus guter
Familie, das für sich ohne rechten Familienhintergrund wohnte
und aufs Ungewisse hin studieren wollte, war damals etwas so
Ungewohntes.
Und die Freundinnen? Von Mieze Heumann fand ich beim
Einzug wunderbare rosa Rosen mit der Nachricht, dass sie sich mit dem
Gerichtsarzt Dr. Curt Strauch verlobt habe. Rose
war an unserer alten Schule als Lehrerin angestellt und wollte sich
nach einigen Jahren zur Oberlehrerin ausbilden, was damals ohne
Abitur zu schaffen war, weil akademisch gebildete weibliche
Lehrkräfte für die nach neuen Plänen eingerichteten
Lyzeen gebraucht wurden. Die Pläne waren am grünen Tisch
gemacht und ließen sich dann in der Praxis nicht gleich
verwirklichen. Bei Rose war ich an den Freitagen manchmal zu
Tisch; ihre Mutter war so freundlich, und Rose hielt mich
nicht auf; sie hatte selbst viel zu tun. Wenn ich sie manchmal
unterwegs traf und doch ein wenig Lust zum Erzählen hatte,
verabschiedete sie sich meistens schnell. „Meine Hefte schreien
nach mir.“ Dora war in die Sphäre der verheirateten
Frau entrückt.
Jetzt war da kein schmales Zimmerchen mehr, wo über einem
einfachen, kleinen Tisch Bilder mit Reißzwecken befestigt
waren; die beiden Köpfe im Profil auf dem Mond, die sich küssen,
aus der „Jugend“
ausgeschnitten, Landschaften aus Kunstmappen, das Photo einer
angebeteten, baltischen Kusine.
Jetzt hatte Frau Schmidt, geb.
Walter eine schöne Wohnung auf den Hufen in der
Steinstraße. Schon das Türschild war nicht mehr ein
Porzellanoval mit schwarzer Schrift oder luxuriöser aber ganz
schlicht in Messing; ihres war von einer Kunstgewerblerin entworfen
und zeigte in Messing eingraviert zwei Heuschrecken, die mit den
Köpfen an einander stießen.
Das Herrenzimmer hatte Professor
Schmidt schon als Junggeselle gehabt. Es war erdrückend
kostbar mit Klubmöbeln, dem großen Perser, Gemälden
und Bronzen. Und hier und in Doras Zimmer Kissen eins immer schöner
und künstlerischer als das andere. Roses Photographie –
in Kopenhagen hatten wir sie „Blomster“ „Blümchen“
genannt – stand in einem Rahmen aus Kopenhagener Porzellan – weiß
mit rosa Streublümchen. Ganz stilvoll. Ich mochte nicht
hingehen.
Professor Gerhard Schmidt, den ich später schätzen
lernte, war so vollkommen uninteressiert, was gerade durch seine
gleichgültige Höflichkeit besonders zu merken war. Von
Pomedien her war ich die chevalereske
Art à la Rokoko auch der alten Herren gewöhnt. Nein, ich
hatte keine Stimmung, Dora aufzusuchen.
Das Alte war vergangen, und Neues noch nicht gewachsen und dazu
kam die Selbstsucht des jungen, so ganz in die eigenen Nöte und
Wünsche eingesponnenen und hilflos Einsamen. Da fand ich eines
Nachmittags bei der Heimkehr einen dicken Veilchenstrauß an der
Türe hängen und wusste gleich, dass er nur von Dora
sein konnte. Wie oft hatten wir zusammen auf den Wällen Veilchen
gesucht. Noch am selben Abend war ich bei ihr und wurde wegen meines
nun auf einmal prompten Kommens mit milde verzeihendem Lächeln
begrüßt. Als ich nach Hause ging, hatte ich die Adresse
der früheren Aufwartung von Prof. Schmidt in der
Tasche. Diese Frau Koslowski machte dem glanzvollen Zeugnis
von Schmidt alle Ehre. Sie war wirklich eine Perle und hat mir ein
ganzes Jahr lang sehr geholfen. Dann konnte sie eines leichten
Schlaganfalles wegen nicht mehr kommen, und die alte Not begann. Ich
brauchte im letzten Jahr mehr als je eine zuverlässige Hilfe.
Meiner Mutter sagte ich nichts von meinen Nöten. Aus der
schlanken, eleganten Mama war die Großmutter geworden. Mit der
ihr eigenen Elastizität hatte sie sich aus dem Zusammenbruch
ihrer Existenz auf Neuland gerettet und lebte bei Bocks im
Rastenburger Schülerheim ganz in den Enkeln. Sie kam ganz selten
heran wie zu einem flüchtigen Besuch, wenn sie in Königsberg
etwas zu tun hatte.
An einem köstlichen Sommermorgen sann ich nach, was zu tun
sei. Ich war vergeblich bei verschiedenen Stellenvermittlerinnen
gewesen, hatte vergeblich mehrmals annonciert. Nichts anderes
wünschte ich mir jetzt als eine freundliche, zuverlässige
Seele, die kochen konnte, nichts anderes konnte mich erfreuen, kein
Buch und kein Geld, um Himmelswillen kein Besuch, nicht einmal ein
wirklich lieber Brief von Jankow, auch nicht sein Besuch. Er
war einmal kurz dagewesen, und wir hatten an einander vorbei geredet.
Allerdings war Ottilie gerade bei mir, die unbewusst
eifersüchtig jede seiner Annäherungen verfolgte. Ich konnte
natürlich nicht ganz frei in ihrer Gegenwart sprechen, aber ihr
ostentatives Draußenbleiben war vielleicht noch hemmender. Sie
hatte nicht die Gabe, es unauffällig oder ganz offen, in jedem
falle freundlich zu machen. Als er die Treppe hinunter ging, hörte
er sie noch fragen: „Und was hast Du nun von seinem Kommen?“ Er
teilte es mir unangenehm berührt in seinem nächsten Brief
mit.
Im Winter 1908 hatten wir uns häufig geschrieben. Aber nun
war ich dieser Briefe mit ihren wechselnden Stimmungen, ihren
schrulligen Plänen, ihrer rücksichtslos-egozentrischen
Stellung zu Welt und Menschen so herzlich müde, nicht zuletzt
wegen deer seelischen Unruhe, die sie mir brachten.
Als ich so saß und sann, klingelte es; also wohl doch ein
Brief. Ich ging langsam zur Tür. Da stand Amalies
Schwester vor der Tür und neben ihr ein hübsches,
freundliches, blondes Mädchen, das sie als ihre Nichte und meine
künftige Hilfe vorstellte. Die Gute wusste um meine Nöte
und hatte alles getan, um mir zu helfen. Schon am nächsten Tag
wollte Auguste morgens um ½ 7 Uhr kommen. „Aber, bitte,
pünktlich.“ Sie hatte eine Schlafstelle zwei Häuser
weiter bei einer Freundin, war also im Fall der Not jederzeit zu
erreichen. Ich atmete auf. Ich konnte im ersten Augenblick gar nicht
an mein Glück glauben. Nun hatte ich wirklich Ruhe zur Arbeit,
eigentlich schon zum Endspurt, denn nach ¾ Jahr war schon das
Abitur.
Vor dem Eintreffen der Hilfe hatte ein
schweres Jahr gelegen, denn Ostern 1908 überlegte ich mir
rückblickend, dass ich meinem Ziel nur wenige Schritte näher
gekommen war.
Für Latein hatte mir Wilhelm Bock einen früheren
Schüler empfohlen, der ganz auf meine Art einging. Sexta und
Quinta hatte ich ja nun durch das Unterrichten eisern gelernt, was
bei Hoffmanns genialen Stunden, der nach dem 1. Vierteljahr
mit dem Gallischen Krieg und Ovid losgelegt hatte sehr angebracht
war. Jetzt beherrschte ich auch Livius; für Latein war schon
nach dem ersten Winter nicht mehr viel zu tun; das unüberwindlich
Schwierige waren die Naturwissenschaften und Mathematik. Jetzt half
wieder Dora, mit der zusammen ich bei ihrem Mann
Experimentalphysik hörte; leider kam er nach einem Semester nach
Münster; ich hörte dann noch bei Kaufmann.
Die 25 Mark für Kolleggelder waren nicht leicht zu
beschaffen. Schmidt hatte nichts genommen. Nun hatte ich
wenigstens Experimente gesehen, aber ohne Mathematik blieb mir
natürlich das meiste unverständlich. Bei Tangenten prägte
sich mir der Satz sina / cosa = tga rein mechanisch eisern ein,
aber wenn ich dann im Lexikon, um mich zu orientieren, „sinus“
aufschlug, und Sinus, sinus = Bausch, Gewand fand, merkte ich, dass
ich die Weiche falsch gestellt hatte, aber aus dem mathematischen
Kreisbild wurde ich auch nicht klug.
Die Studentchen, bei denen ich einige
Stunden nahm, sagten auf meine Fragen, was mir wie abra kadabra klang
und fingen weit ausholend mit dem Quarta-Pensum an, so dass ich
hoffen konnte, bei ihrer Art des Vorwärtsgehens in einem Jahr
den Pythagoras zu erreichen, womöglich sogar zu beherrschen.
Einmal half auch Helene Eichler, die ich in den Anlagen vor
dem Steindammer Tor traf, und die mir die trigonometrischen
Funktionen in aller Eile als Proportionen erklärte.
Ich habe meine sehr flüchtig
erlernte Mathematik so richtig vergessen, dass ich nicht mehr genau
weiß, wie es zuging, aber ich erinnere mich, dass sich mir
vieles glückhaft klärete. Seitdem hielt ich Ausschau nach
einer Studentin, die nicht die Ochsentour der Jungen hatte machen
können, sondern die auf sich selber angewiesen war.
Es war mittlerweile
Juli geworden, Juli 1908, da hatte ich an einem sonnigen Nachmittag
gleich zwei glückhafte Begegnungen.
Zuerst traf ich Gertrud
Reubekeul, die ich von Tilsit her flüchtig kannte.
„Fräulein Reubekeul", rief ich fröhlich aus
und hielt mich nicht mit Einleitungen auf, „wie machen Sie es mit
Ihren Studien zum Abitur? Es ist ja unmöglich, es mit
Privatstunden zu schaffen“. „Ich bin in einem Kursus bei Frl.
Arnheim“. „Wie viele sind Sie? Können auch andere, ich
meine Freunde, ich meine kann ich teilnehmen? Was kostet es? Wie weit
sind Sie?“ „Ja“, sagte Gertrud Reubekeul lakonisch,
und doch mit erschöpfender Beantwortung meiner Fragen, „ja,
20M monatlich – auf Obersekunda“. „Danke, auf Wiedersehen!“
Ich hatte sie auf der Schlossteichbrücke getroffen auf dem
Weg nach Hause, und schon in der Nähe der Universität
bemerkte ich die untersetzte Gestalt von Mieze Kado, deren
rundlichen, verschwommenen Gesichtszügen man es gar nicht ansah,
wie intelligent sie war. Sie baute das Studium nicht wie Rose
und viele andere auf dem Lehrerinnenexamen auf, das zu ihrer Zeit nur
zwei Seminarjahre verlangt hatte; sie hatte sich sehr schnell zur
Reifeprüfung vorbereitet und studierte Englisch und Mathematik.
Sie war die Richtige! Dass mirdas nicht früher eingefallen war!
„Können Sie mir Mathematikstunden geben? Ich bin unbegabt für
dies Fach. Ich muss nach den Sommerferien in einen Kursus eintreten,
der auf Ober-Sekunda ist. Ich will mich nur mit Anstand blamieren;
ich muss doch wissen, wo von die Rede ist, nicht wahr? Ich muss
wissen, was ein sinus ist.“ Mieze Kado verstand mich
vollkommen, besser als die Studentchen, die zum Quartapensum ein Jahr
brauchten. Alle waren wohl nicht so, aber ich war ja schließlich
zum schnellen Vormarsch kein ganz unzulängliches Objekt. Ich
ging zweimal in der Woche zu ihr, in die kleine Lotsenwohnung, wo die
unverkauften Bilder des Malersohnes Eduard hingen, der ein
sehr gutes Bild meines Vaters gemalt hatte, das auch auf der
Gemäldeausstellung einen Platz bekommen hatte. [Anmerkung:
Eduard
Kado
hat 1899 auch Elisabeth gemalt.]
Die Mutter war auch rundlich, der Vater hatte einen Schifferbart und
bot einem die Hand mit einem Druck, der wohl nur nach seinen
Begriffen zart war.
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3 Gemälde von Eduard Kado:
links Tochter
Marie Lemke, in der Mitte Georg Friedrich Lemke, rechts Tochter Elisabeth Lemke
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Ich lernte täglich 8 Stunden Mathematik und oft noch mehr,
das schaffte ganz schön, und Ende Juli ging ich zu Frl.
Arnheim. „Ach, Sie sind die jüngste Tochter von Herrn
Georg Friedr. Lemke. Ich besinne mich gut auf die schöne
Erscheinung Ihres Vaters und in Neuhäuser auf die Reihe der
kleinen Lemkes, wie die Orgelpfeifen. Wir fangen erst zwei
Wochen nach Schluss der Sommerferien an, damit unsere jüngeren
Mädchen sich recht erholen können. Werden Sie es schaffen?
Ich meine körperlich? Sie sind ein wenig schmal und blass.“
„Ich denke doch“.
Am Tag vor Beginn des Kursus holte ich mir ein Buch aus der
Leihbücherei – die Fortsetzung von „Asmus Sempers
Jugendland“,
las auf einer Bank im Logengarten,
den jederzeit zu betreten ich noch vom Vater her das Recht hatte;
dann trieb ich den Luxus, eine Tasse Kaffee mit Kuchen zu bestellen.
Jetzt galt es, einen hohen Berg zu ersteigen; mit allen persönlichen
Wünschen war es von morgen an vorbei, wieder einmal endgültig
vorbei mit der Freiheit.
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