Der historische Hintergrund zu dem Drama von Edmond Rostand „Der junge Adler" (L'Aiglon)

Die Personen

 

 

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Seine Freunde.
Der Herzog von Reichstadt hatte im Leben nur einen Freund, es war Anton Prokesch, Ritter von Osten. Srbik nennt diesen Mann „eine Persönlichkeit voll edlen Menschentums und universaler Geisteskultur" 1). Die außerordentlich vielseitige Bildung bleibt Prokesch Osten, wie er gewöhnlich genannt wird, auch an anderer Stelle zuerkannt 2). Er war Dichter, Forscher auf den Gebieten der Archäologie, Numismatik u. a., Offizier, Militärschriftsteller, Diplomat. „Er hat auf keinem Gebiet Verächtliches geleistet, und es läßt sich kaum ein Beruf denken, in dem er den Durchschnitt nicht überragt hätte; aber er hat auch nirgends, weder in einer seiner vielen Liebhabereien, noch in seinem Hauptberuf als Diplomat im höchsten Sinne Großes vermocht, schöpferisch gewirkt." In diese Worte faßt A.0. Meyer sein Urteil über Prokesch zusammen. In seiner Vielseitigkeit ist Prokesch sicherlich neben Humboldt, vielleicht neben Leibniz zu stellen.
Was seine Gesinnung anbetrifft, so steht dem guten Urteil bei Srbik ein nahezu vernichtendes bei Meyer gegenüber. Es liegt allein schon in den einleitenden Worten, daß man ein ganz anderes Bild erhalte, wenn man die diplomatischen Berichte und die politische Geschichtsschreibung nach seinem Namen frage 3). Danach fehlte Prokesch Osten die Geschlossenheit des Charakters. Das hängt mit einer gewissen Oberflächlichkeit seines Wissens zusammen, Ein tiefes, gründliches Studium, auf welchem Gebiet auch immer, hätte bei einem Mann seiner Fähigkeiten unfehlbar den Charakterzug der Wahrhaftigkeit ausbilden müssen. Prokesch galt geradezu in dieser Hinsicht als übelbeleumdet, als er im Jahre 1852 nach Frankfurt kam. Wenn er zu diesem hohen Posten ausersehen war, so war es weniger wegen seiner Tüchtigkeit als wegen der Untüchtigkeit anderer.

Immerhin ist die Treue nicht zu leugnen, die er seinem jungen Freunde bewahrte. Bei der kurzen Zeit ihres Bestehens wäre diese Freundschaft für einen anderen nur eine Episode gewesen; für Prokesch war sie ein Erlebnis, dessen Einzelheiten er nicht vergessen wollte. Er lieferte wertvolle Angaben für die erste Biographie des Herzogs, und als er fand, daß diese tendenziös ausfiel, setzte er seinem Freund ein Denkmal in seiner Schrift „Mein Verhältnis zum Herzog von Reichstadt". Die Ausführungen sind von seinem Sohn herausgegeben worden und werden von keinem Biographen des Herzogs übergangen. Sie bilden meines Erachtens die beste Quelle zu seiner Beurteilung. Hier sind alle die Züge genannt, die der Umgebung des Herzogs entgingen oder die zu falscher Deutung Anlaß gaben; die Liebe zum Soldatenberuf, die Bewunderung für seinen Vater, der Vorsatz, ein zweiter Prinz Eugen zu werden, wenn es denn nicht sein sollte, daß er nach Frankreich zurückkehre, der Entschluß, niemals gegen Frankreich das Schwert zu ziehen, und der Schmerz über seinen gebrechlichen Körper.

Das Zusammentreffen, bei welchem die Freundschaft geschlossen wurde, fand statt in Graz am 22. Juni 1830. Prokesch weilte gerade hier in seiner Vaterstadt, als auch der Hof sich zu kurzem Aufenthalt dort befand. Der eben Geadelte wurde zur Hoftafel geladen. Hier lernte er den Herzog von Reichstadt näher kennen, den er als Kind nur flüchtig gesehen hatte. Er verfehlte seinen Eindruck auf den Herzog nicht, mußte er doch naturgemäß von den Wiener Herren des Hofes erheblich abstechen. Er hatte fern von den kleinen und kleinlichen Vorgängen des Hoflebens seine Pflicht im Dienste des Staates getan, war in Gefahren gereift und besaß neben seiner vielseitigen Bildung, was der Herzog sich wünschte, im Felde erworbenen Ruhm. Sein Name war dem Prinzen aus seiner Schrift über Napoleon 4) bekannt. Nach Napoleons Unglück war es ein Leichtes gewesen, ihm die höchste Feldherrnbegabung abzusprechen. Da war es Prokesch, der im Jahre 1818 für Napoleon, den Feldherrn, eintrat und mit einer Arbeit über die letzten unglücklichen Kämpfe jene Vorgänge nach Grund und Folge untersuchte und in das rechte Licht zu stellen trachtete. Diese Schrift bildete den Anknüpfungspunkt und lenkte die vertrauliche Unterhaltung sofort auf Napoleon. Das Zusammensein dauerte nur bis zum 29. Juni, und von den wenigen Tagen kamen nur Stunden für einen unbefangenen Gedankenaustausch in Betracht. Der Herzog genoß das seltene Glück, zu einem Menschen zu sprechen, dem er sein Vertrauen schenken konnte. Er entwickelte Ansichten, die er seinem Reisetagebuch nicht anvertraute. Nur wenn man das gleichzeitige Tagebuch Prokeschs vergleicht, kann man auch einiges zwischen den Zeilen des Herzogs lesen. Er bringt zu Papier, was Prokesch über Griechenland gesagt hat, ein Zeichen, wie wertvoll ihm die Unterhaltung ist. Er schreibt einmal, daß er allein mit seinem Freunde blieb, eine Bezeichnung, die sich in seinen Tagebüchern für niemanden sonst findet. Er hat offenbar auch nicht viel zu anderen über Prokesch und den Eindruck, den er von ihm gewann, gesprochen, sonst hätte Dietrichstein die Freundschaft nicht so begünstigt. Graf Dietrichstein, der damals noch sein Amt als Erzieher versah, hatte selbst Prokesch, Ritter von Osten, seinem Zögling vorgestellt. Die Standeserhöhung machte ihm wahrscheinlich mehr Eindruck als die Persönlichkeit des Mannes. Er beobachtete die Freundschaft, und was er davon verstand - es war wenig genug - fand er nach seinem Sinn. Er hatte damals gerade zu seinem Schrecken die Neigung des Prinzen festgestellt, sich gern mit Tieferstehenden zu unterhalten und mit seinem Händedruck sehr freigebig zu sein. - Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Art des Umganges auf angeborener Eigenschaft beruhte oder auf bewußter Nachahmung des Systems seines Vaters. - Dietrichstein sah nun mit Freuden den Verkehr mit dem Adligen. Daß das empfängliche Gemüt des Prinzen beeinflußt wurde, bemerkte er auch; in welche Bahn dessen Gedanken gelenkt wurden, entging ihm. Er hatte selbst nie auf die Charakterbildung seines Zöglings bestimmend einwirken können, wie sollte er einem andern, einer erst kürzlich gemachten Bekanntschaft, diese Fähigkeit zutrauen? Er ersuchte Prokesch, auf den Herzog dahin einzuwirken, daß er sich einer besseren Rechtschreibung befleißige, und bewies damit, daß er auch seinem erwachsenen Schüler der Lehrer geblieben war, und zwar ein solcher, der seine Hauptaufgabe in der Übermittlung von Kenntnissen erblickt. Ein anderer nahm die freie Stelle des Freundes und Ratgebers ein.

Ein wachsames Auge hatte Metternich. Prokesch stand auf der Liste derer, welche die militärische Umgebung des Herzogs bilden sollten. Metternich sagte sogleich, als er den Namen bemerkte: „Den nicht, den brauche ich." 5) Es war ein schwer anzufechtender Grund.
Wenn nun auch Prokesch nicht zur nächsten Umgebung seines Freundes gehörte, so war er doch zweimal längere Zeit in Wien, in den beiden Wintern 1830/31 und 1831/32. In dieser Zeit war er häufig mit dem Herzog zusammen. Im Februar 1832 wurde er mit einer diplomatischen Mission nach Italien geschickt. Als er im Juli zurückkehrte, erreichte ihn in Bologna die Nachricht vom Tode des Herzogs. Sie war für ihn nicht unerwartet. Mit steigender Besorgnis hatte er bei seinem Aufenhalt in Wien das Fortschreiten der Krankheit beobachtet. Des Herzogs Zustand und die Einsamkeit, in der er sich inmitten des Hofs trotz mancher Sympathien befand, mögen ihn besonders zu dem Prinzen hingezogen haben. Nach dessen Tode schrieb er an Dietrichstein: „Eigentlich geliebt hat er doch nur uns beide." Er wollte es sich wohl selbst nicht eingestehen, daß die Zuneigung des Herzogs im Grunde nur ihm galt.

Prokeschs Laufbahn war noch lange nicht beendet. Es folgte noch eine Reihe diplomatischer Verwendungen. 1848 wurde er nach Berlin geschickt, 1852 nach Frankfurt. Er gehörte also nicht zu den Höherstehenden, denen jenes Schicksalsjahr im besten Falle den Eintritt in den Ruhestand brachte. Erst im Jahre 1871 zog er sich von den Geschäften zurück. Er wurde bei dieser Gelegenheit in den Grafenstand erhoben. Er starb 1876 in seinem Landhaus bei Wien.
Rostand gibt seinem Helden einen zweiten Freund in dem Marschall Marmont 6). Marmont war derjenige, weicher im März 1814 Joseph erklärte, daß Paris nicht mehr zu halten sei, worauf hin die Übergabe erfolgte. Er gab an, sich zu dem Schritt gezwungen zu sehen, nachdem er die Unmöglichkeit eines längeren Widerstandes erkannt habe. Ménéval verurteilt das Verhalten Marmonts, der im entscheidenden Augenblick den kaiserlichen Adler verlassen habe. Auf die Anhänglichkeit gerade dieses Waffengefährten habe Napoleon am meisten vertraut. „Der Abfall des Marschalls Marmont", schreibt Meneval, „war ein tödlicher Schlag für die kaiserliche Sache. Seine Handlungsweise bestimmte Alexander ... im Namen der Verbündeten die bedingungslose Abdankung zu verlangen." 7) Der Marschall muß in der Tat sich nicht sicher gefühlt haben, seine Handlungsweise jederzeit als gerechtfertigt beweisen zu können, er war sich vielmehr darüber klar, daß er mit den Bourbonen stand und fiel. Sonst hätte er es nicht nach der Julirevolution vorgezogen, Frankreich zu verlassen. Er scheint absichtlich die Nähe des Mannes aufgesucht zu haben, dem er mit seiner Heldentat von 1814 einen Gefallen getan hatte. Er begab sich nach Wien und gehörte bald zum Metternichschen Kreise 8). Nicht allzulange nach seinem Erscheinen wurde er dem Herzog von Reichstadt vorgestellt. Bedenkt man, wie sehr der Umgang des Herzogs ein Gegenstand der Besorgnis und Überlegung war, wie besonders Personen, die aus Frankreich kamen, wenig Aussicht hatten, den Sohn des großen Kaisers zu sehen, so könnte man sich wundern, daß Marmont den ausdrücklichen Auftrag erhielt, sich zu dem Herzog zu begeben und ihm von Napoleon zu erzählen. Vielleicht erwiesen jener Abfall von Napoleon und die treue Anhänglichkeit an die Bourbonen Marmont in den Augen des Wiener Hofes als redlichen, klugen Mann, dem man bei einiger Vorsicht den Zutritt zu dem Herzog gestatten konnte. Wahrscheinlicher scheint mir eine andere Erklärung: Der Herzog war aus Gründen der Politik in die Gesellschaft eingeführt worden. Metternich hatte ein Interesse daran, daß er bekannter wurde. Die Absicht lag klar zutage 9). Die frühere Abgeschlossenheit ließ sich bei dieser Methode nicht beibehalten, und mit einem Zusammentreffen mit Marmont mußte gerechnet werden. So führte denn Metternich dieses Zusammentreffen selbst herbei nach seinem Grundsatz, daß Ereignisse, die sich nicht abwenden lassen, gelenkt werden müssen. Er erteilte selbst dem Marschall den Auftrag, dem Prinzen Vorträge über die Kriege Napoleons zu halten, und gewann damit die Gelegenheit zu eingehenden Anweisungen.

Auf einer Gesellschaft im Hause des englischen Botschafters, Lord Cowley, am 25. Januar 1831 fand die erste Begegnung statt. Es liegen mehrere Berichte darüber vor, die von Wertheimer eingehend untersucht worden sind. Am höchsten bewertet Wertheimer das Zeugnis des glaubwürdigen Foresti aus seinen ungedruckten Aufzeichnungen 10). Nach allem gewinnt man den Eindruck, daß der Herzog die Form der Höflichkeit wahrte, sich jedoch eines Mißtrauens nicht erwehren konnte gegen den Mann, der, ein Jugendfreund und Waffengefährte seines Vaters, den Kaiser in der Not verließ.

In diesem Zusammenhang führt Wertheimer einen Ausspruch des Herzogs an und bemerkt dazu, es könne unmöglich seine wahre Meinung gewesen sein. Der Herzog hat danach zu einer Dame der Hofgesellschaft gesagt: „Wenn ich damals (1814) der Marschall Marmont gewesen wäre, so würde ich ebenso gehandelt haben." 11) Es bleibt zu untersuchen, wie der Herzog zu diesem Ausspruch kam. Ich glaube, daß die Worte spöttisch gemeint sind und einen hohen Grad von Verachtung ausdrücken sollen. Der Herzog wollte sagen: Ein Mensch wie Marmont konnte nicht anders handeln. Wenn ich einen so schlechten Charakter besäße, so hätte ich an seiner Stelle aus Naturnotwendigkeit auch so handeln müssen.

Marmont hielt seinen ersten Vortrag am 28. Januar 1831 12). Offenbar sollte hinter einer Fülle fesselnder Einzelheiten das Werturteil zurücktreten oder in dem Sinne ausfallen, wie man es wünschte: Napoleon, ein Opfer seiner Eroberungssucht. Zu allem wachte Dietrichstein über dem Unterricht. Er machte genaue Aufzeichnungen über das Vorgetragene, und wo ihre Angaben voneinander abweichen, möchte man ihm eher glauben als dem Marschall. Der Herzog zeigte das größte Interesse. Es ist ein gutes Zeugnis für ihn und beweist seine Fähigkeit, sachlich zu denken, daß er über den Nachrichten, die ihn fesselten, seine persönliche Stellung zu dem Erzählenden vergaß und sich mehr und mehr auf dessen Besuche freute. Am 15. April 1831, nachdem er am 6. April seinen letzten Vortrag gehalten hatte, verabschiedete sich Marmont. Er erhielt zum Dank das Daffingersche Bild des Prinzen mit dessen eigener Unterschrift.
Marmont starb 1852; seine Beziehungen zu Metternich hatte er nicht aufrechterhalten 13).

Neben diesen beiden historischen Personen steht als dritter Freund Flambeau, der Soldat des Kaiserreiches. Er hat als Typus ein historisches Urbild, wenn er auch als Person erfunden ist. Ich glaube nicht, daß Flambeau identisch ist mit dem Sergeanten Le Coignet auf dem Bilde von Le Blanc 14). Sonst hätte er im Drama diesen Namen führen können. Der Soldat ist hier dargestellt, wie er den kleinen König von Rom in den Armen hält, während das Kind mit dem Federbusch des Helmes spielt. Dem Bilde braucht nicht notwendig eine historische Tatsache zugrunde zu liegen. Rostand hat das Bild benutzt. Es hat ihm die Data zu der hübschen Erzählung Flambeaus geliefert, wie er die Bekanntschaft des Königs von Rom gemacht habe.
Die äußeren Umstände seines Lebens knüpfen sich an geschichtlich Gegebenes an. Die Schlachten, von denen er aus eigener Erfahrung erzählt, sind geschlagen, die Komplotte, bei
denen er mithalf, verübt worden. Alle die Gegenstände, auf denen er dem Herzog dessen Bild zeigt, waren damals wirklich vorhanden. Rostands Quelle ist hier Welschinger 15).
Flambeau hat in allen Schlachten mitgekämpft, die Napoleon geschlagen hat, und nach dem Sturz des Kaisers hat er an allen Komplotten der Bonapartisten teilgehabt. Man kann sagen: so weit Flambeau der Exposition angehört, ist er historisch, als handelnde Person ist er erfunden, aber von den erfundenen Personen ist er am lebenswahrsten.

Als begeisterter Bonapartist erscheint bei Rostand der Graf von Otranto, der Sohn des einstigen Pariser Polizeiministers Fouché. Es wird nirgends erwähnt, und es ist auch nicht an zunehmen, daß er je mit dem Herzog zusammengekommen ist, doch muß er über die Partei in Frankreich Bescheid gewußt haben; denn an ihn wandte sich Metternich im Jahre 1815 mit den Fragen, was geschehen würde, 1. wenn Napoleon sich wieder zeigte, 2. wenn der König von Rom an der Grenze erschiene, unterstützt von einem österreichischen Armeekorps. Otranto erklärte auf die erste Frage, daß alles vom ersten französischen Regiment abhängen würde. Auf die zweite Frage antwortete er unzweideutig: Ganz Frankreich würde sich für den König von Rom erklären. Dagegen meinte er, daß bei einer Revolution das Ergebnis der Umwälzung zugunsten des Herzogs von Orléans ausfallen würde"). Der Herzog von Orléans war der spätere König Louis Philipp; so wird also auch die Antwort auf die zweite Frage den Tatsachen entsprochen haben.

Unter den weiblichen Personen, die sich auf die Seite des Herzogs stellen, ist am bedeutendsten die Erzherzogin Sophie, im Drama „Die Erzherzogin" genannt. Sie nimmt fördernden Anteil an seinen Plänen, wenn sie auch warnt vor einem unüberlegten Schritt. Sie gebraucht diese Vorsicht nur, damit das Ziel schließlich um so sicherer erreicht werde. Bei dem Charakterzug des Ehrgeizes, den die Prinzessin besaß, liegt in ihrer Stellungnahme keine ausgesprochene Änderung, vielmehr eine Steigerung des historisch Gegebenen.
Sophie war die Tochter des Herzogs Maximilian von Bayern, der im Frieden zu Preßburg König wurde. Als Gemahlin des Erzherzogs Franz Karl war sie Marie Louisens Schwägerin. Im
selben verwandtschaftlichen Verhältnis stand sie zu Kaiser Franz als Schwester seiner vierten Gemahlin Karoline. Doch gehörte sie ihrem Alter nach zur Generation Marie Louisens. Eine zweite Schwester von ihr war und eine dritte wurde Königin, Elisabeth als Gemahlin Friedrich Wilhelms IV. von Preußen und Marie als Gemahlin des sächsischen Thronfolgers, der im Jahre 1836 als Friedrich August II. seinem Oheim August I. auf den Thron folgte. Sie selbst trug sich mit dem Gedanken, Kaiserin zu werden. Als mit dem Tode Franz I. zu rechnen war, hatte sie „den staatspolitisch allein richtigen, aber staatsrechtlich sehr strittigen Gedanken, die Regierung an ihren Gatten Franz Karl, den jüngeren Sohn Franzens, gelangen zu lassen" 17). Metternich vertrat mit Festigkeit die Thronfolgerechte des geistesschwachen Ferdinand. Wäre ein Schwächerer als er Staatskanzler gewesen, so hätte Sophiens Plan möglicherweise gelingen können. Bei den günstigen Umständen und noch günstigeren Möglichkeiten, die sie in ihrer Klugheit vollkommen zu werten wußte, wird es verständlich, daß sich der Zug des Ehrgeizes bei ihr entwickelte.
Noch eine andere Seite ihres Charakters findet bei Rostand ihren Niederschlag. Sophie war fromm, mit einer Beimischung von Schwärmerei. Sie hatte mit ihrer Schwester die Führerschaft der „frommen Partei" am Hofe18). Es war ihr ein Herzensbedürfnis, die Gnadenmittel der Kirche auf sich wirken zu lassen. Nachdem am 6. Juli 1832 ihr zweiter Sohn zur Welt gekommen war, ließ sie sich im Gefühl der Dankbarkeit das Abendmahl reichen. Taktvoll die Gelegenheit benutzend, vermochte sie den Schwerkranken zur Teilnahme daran zu bewegen. Sie dachte noch an sein Seelenheil, als sie einsah, daß es keine Zukunft mehr für ihn gab, an deren Gestaltung sie hätte mitarbeiten können. Sie war die einzige von allen Personen des Hofes, die dem Herzog näher stand. Sie betrachtete ihn vor allem als ganz zu ihrer Familie gehörig. Von einem Bilde, das den Herzog von Reichstadt zusammen mit zwei Kindern der kaiserlichen Familie zeigt, vermute ich die Urheberin in ihr. Zwei Gründe sprechen dafür: Das Kind, das der Herzog auf den Knieen hält, ist Franz Joseph, Sophiens ältester Sohn, und dieses Bild findet sich in einer Sammlung 19), die längere Zeit Besitz ihres Gatten, des Erzherzogs Karl, war.

Im Gegensatz zur Erzherzogin Sophie, die zu Geduld und Vorsicht mahnt, ist die Gräfin Napoleone Camerata die treibende Kraft.
Sie war die Tochter der Elise Bacchiochi, einer Schwester Napoleons und stand damals im jugendlichen Alter von 24 Jahren. Sie war alleinstehend; von ihrem Gatten hatte sie
sich getrennt. Vielleicht war es ihr aus diesem Grunde möglich, mit ihrer Angabe durchzudringen, daß sie sich als österreichische Untertanin betrachte, denn die Heimat des Grafen war Ancona, das zum wiederhergestellten Kirchenstaat gehörte, und ihr Vater war Korse. Nicht ohne Schwierigkeiten erhielt sie in Rom einen Reisepaß nach Wien. Sie wurde auf der ganzen Reise und während ihres Aufenthaltes in Wien beobachtet. Der Zweck ihrer Reise geht deutlich aus einem Briefe hervor, den Metternich an den österreichischen Gesandten in Rom richtete. Metternich schreibt: „Frau Camerata hatte sich nichts Geringeres vorgenommen, als den Herzog von Reichstadt zu überreden, daß er fliehe. und sich an die Spitze der Anhänger der Familie Bonaparte stelle." 20) Das ist auch die Rolle, die sie bei Rostand vom
1. bis zum 5. Akt zu spielen hat. Hier führt sie ihre Absicht, dem Herzog die Flucht zu ermöglichen, vollständig in heldenhafter Weise aus. In Wirklichkeit kam es nur zu einem ganz kurzen Zusammentreffen und zu zwei Briefen, die in die Hände des Herzogs gelangten. Das Zusammentreffen ist verbürgt durch eine Tagebuchnotiz von Dietrichstein. Der Graf verzeichnet unter dem 11. November 1830: „Prinz bei Obenaus unten die Camerata gesehen." 21) Sie hat also die Wohnung seines Lehrers Obenaus in Erfahrung gebracht und die Zeit, in der er dort zu treffen war. Dann hat sie ihn dort „unten", offenbar im Dunkel des Eingangs erwartet und auch wirklich überrascht. Es ist ein kleiner Ausschnitt aus einem sorgfältig entworfenen Plan. Auch Prokesch Osten erzählt den Vorgang in seinem Tagebuch ausführlich und mit Einzelheiten, die Wertheimer z. T. für Ausschmückung hält. Wertheimer läßt die Angabe gelten, daß die Gräfin die Hand des Herzogs geküßt und dabei gesagt habe: „Wer kann mich hindern, die Hand meines Souveräns zu küssen?" Dagegen ist es ein Erzeugnis der lebhaften Phantasie des Schreibenden, daß der Herzog in höchste Erregung geraten sei und Erkundigungen über die Dame eingezogen habe. Es gelangten auch zwei Briefe von ihr in die Hände des Prinzen, wie aus dem Tagebuch des Grafen Dietrichstein hervorgeht. Da Dietrichstein Kenntnis davon hatte, so wird eine Antwort nicht erfolgt sein. Sie wurde aus Wien ausgewiesen und ging nach Prag. Doch war es ihr nicht gestattet, zum Zweck eines dauernden Aufenthaltes Landbesitz in Böhmen zu erwerben. So viel Erfolg müssen demnach ihre Schritte gehabt haben, daß sie in den Augen Metternichs für einen Feind galt, vor dem man sich in acht nehmen müsse 22).

Für nicht beachtenswert und ungefährlich galt die Prinzessin Grassalkovich, die der Wiener Gesellschaft angehörte und als geborene Prinzessin Eszterhazy ungarischer Abstammung war. Sie war durchaus eine Anhängerin des Herzogs von Reichstadt und wollte aus ihm „einen König für Polen machen" 23).

Die Rolle, welche die schöne Fanny Elßler im Drama zu spielen hat, gehört vollständig der Legende an. Sie hatte nach ihrem eigenen Ausspruch den unglücklichen Herzog nie ge sehen 24). Aus dem Beiwort, das sie gebrauchte, geht allerdings hervor, daß, wenn sie ihn auch nicht persönlich kannte, sie doch von dem Prinzen gehört hatte und daß sie zu denen gehörte, die seine Lage für bedauernswert hielten.

Wertheimer nennt sie „die entzückende, allgemein bewunderte Tänzerin" 25). Sie war 1829 für das k.k. Operntheater verpflichtet worden, war also damals ein ganz neuer Stern. Sie war auch Friedrich von Gentz bekannt, durch den sie im Drama zu dem Prinzen geführt wird 26).

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1) Srbik a. a. 0. 1 p. 247.
2) A. 0. Meyer, Bismarcks Kampf mit Österreich 1851-1859 p. 197.
3) A. 0. Meyer a. a. 0. p. 125.
4) Les Batailles de Ligny, des Quatre-Bras et de Waterloo.
5) Aus den Tagebüchern des Grafen Prokesch von Osten p.44.
6) Louis de Marmont, er wurde 1809 Herzog von Ragusa.
7) Meneval, Souvenirs p.243.
8) Zu vergl. Aus den Tagebüchern des Grafen Prokesch von Osten p.164 und Srbik 1 p. 280.
9) Zu vergl. p. 10.
10) Wertheimer a. a. 0. p. 418.
11) Wertheimer a. a. 0. p.418. Die Worte sind herübergenommen aus Gräfin Lulu Thürheim. Österreichische Rundschau Bd. 31 p.735.
12) Bei Wertheimer p.419 ist als Anfangsdatum der 28. Januar 1830 angegeben, nachdem p. 418 gesagt worden ist, daß das erste Zusammentreffen am 25. Januar 1831 stattfand. An einer Stelle liegt also ein Fehler vor, und zwar in der Angabe p.419. Es muß hier heißen: Am 28. Januar 1831. Der Winter 1830/31 war die Zeit, in welcher der Herzog in größere Kreise eingeführt wurde und an den Festen der Wiener Gesellschaft teilnahm.
13) Zu vergl. Srbik a. a. 0. II p. 428.
14) Das Bild ist wiedergegeben bei Duruy, Histoire de France p. 825.
15) Welschinger a. a. 0. p. 315. Dans toute la France c'est une véritable avalanche de mouchoirs, de rubans, de pipes, de bustes, de bonnets, de tabatières, de bérets, de bretelles ... sans compter les pièces de monnaie qui représentent le fils de Napoleon.
16) Welschinger a. a. 0. p. 130.
17) Srbik I p. 552/53.
18) Srbik I p.524.
19) Albertina, Wien.
20) Wertheimer a. a. 0. p. 368.
21) Wertheimer a. a. 0. p. 365 Anm. 6. Im Text gibt Wertheimer ungenau den 14. November an.
22) Zum vorstehenden zu vergl. Wertheimer a. a. 0. p. 363-367 und Tagebücher von Prokesch Osten p. 60 ff.
23) Bourgoing a. a. 0. p. 105 Anm.
24) Wertheimer a. a. 0., herübergenommen aus Ehrhard, Fanny Elßler, deutsche Ausgabe von Moritz Necker, p.85; Haraszti, Edmond Rostand p.149
25) Wertheimer a. a. 0. p. 454 Anm.
26) Über Fanny Elßlers Leben und Künstlerlaufbahn unterrichtet ausführlich August Ehrhard, Fanny Elßler, Das Leben einer Tänzerin.


 

 

Ottilie Lemke (1929)

 

 


Letzte Aktualisierung: 07.11.2005