Der historische Hintergrund zu dem Drama von Edmond Rostand „Der junge Adler" (L'Aiglon)

Der Verlauf der Handlung.

 

 

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Der vierte Akt.
Der vierte Akt spielt am folgenden Tage, am Abend des 11. Juli 1831.

Flambeau hat das Zeichen verstanden, wonach der Herzog zur Flucht bereit ist, und hat durch dreimaliges Erheben des Leuchters die Nachricht der im Garten spähenden Gräfin zukommen lassen. Die Vorbereitungen zur Flucht sind getroffen, als der Herzog zum Fest erscheint, noch ergriffen von dem nächtlichen Zusammentreffen mit seinem Todfeind. Er selbst wird über seine Rolle erst am Abend des Festes unterrichtet. Sedlinsky, schlauer als Metternich, ahnt etwas von einem Komplott. Es seien Damen, teilt er Metternich mit, Vertreterinnen der polnischen und der griechischen Nation. Mit diesen beiden politischen Namen wird die Wirklichkeit gestreift. Die Prinzessin Grassalkovich macht der Dichter zum Mittelpunkt der Verschwörung. Wohl wissend, daß sie beobachtet werden, stellen seine Anhängerinnen sich töricht und führen die Komödie einer fast kindlichen Verschwörung auf, um Sedlinsky zu beruhigen und den eigentlichen Fluchtplan um so sicherer ins Werk setzen zu können. Bei einer Wiener Firma wollen sie ein Abzeichen in Form eines Schmuckstücks machen lassen. Sofort fällt die Entgegnung, daß hierfür nur die Pariser Firma Odiot in Betracht komme. Bei Odiot war die Wiege des Königs von Rom ausgeführt worden.

Die plötzliche Sinnesänderung des Herzogs, wonach er zum oberflächlichen Lebensgenuß entschlossen scheint, hat nur den Zweck, die Szene mit Therese von Lorget vorzubereiten. In seiner weichen Stimmung ist der Herzog der Liebe Theresens zugänglich. So kann es zu der verhängnisvollen Verabredung des Stelldicheins kommen, das ein Diener dem ohnehin argwöhnischen Tiburtius verrät. Nachdem der Dichter seinen Zweck erreicht hat, läßt er den Helden sich wieder auf sich selbst besinnen. Mit der Szene zwischen Marie Louise und Bombelles gewinnt er hierzu die Gelegenheit. In der Unterhaltung des Paares sind einige Anspielungen bemerkenswert. «Ma Bonne Louise» beginnt ein Brief Napoleons an Marie Louise aus der Zeit der hundert Tage 1); es war einer der letzten, welche direkt in ihre Hände gelangten. Von ihrem kurzen Aufenthalt in Blois erzählt Marie Louise eine Begebenheit. Dort erhielt sie die Nachricht von der Abdankung des Kaisers. Der Graf Saint-Aulaire, der Abgesandte der Verbündeten, war der Überbringer. Er wurde von Marie Louise empfangen, als sie eben erwacht war und auf dem Rande ihres Bettes saß. Saint-Aulaire vermied es, den Eindruck zu erwecken, als wollte er die Wirkung seiner Worte der Miene der unglücklichen Kaiserin entnehmen, und senkte den Blick. Darauf sagte Marie Louise: „Sie sehen meinen Fuß an, man hat mir immer gesagt, daß er schön ist." Die Erzählung gehört in das Gebiet der Legende. Das ergibt sich allein schon aus der befremdenden Eile und Außerachtlassung der Form beim Empfang des Abgesandten. Ferner findet sieh in der Quelle die Bezeichnung „Anekdote", während eine wirkliche Begebenheit „Episode" genannt worden wäre. Die Begebenheit steht bei Billard, aus diesem wird Rostand geschöpft haben. Billard gibt den Grafen d'Haussonville als seine Quelle an, bei dem die Erzählung mit den Worten beginnt: „Ich habe den Grafen Saint-Aulaire eine Anekdote erzählen hören ..." 2).

Marie Louise trägt im Armband einen grauen Stein, den Bombelles für ein Stück von einem Stein der Pyramiden hält. Er erfährt, daß es sich nicht um eine Erinnerung an den Ruhm Napoleons handelt. Es ist ein Stein von Julias Sarkophag. Es ist der Schmuck, den Chateaubriand erwähnt, als er aus eigener Anschauung die Herzogin beschreibt. Die Worte Chateaubriandsfinden sich in Welschinger 3), der Hauptquelle von Rostand.

Eine Legende ist die Erzählung von Napoleons Eifersucht. Der Kaiser habe einen Schneider vom Hofe entfernt, der bei einer Anprobe die Schultern der Kaiserin bewundert habe. Wir besitzen eine wertvolle Schilderung des Lebens am Hofe der Tuilerien aus der Feder einer Generalin Durand, die zur Umgebung der Kaiserin gehörte. Sie spricht von der Anekdote und bildet meines Erachtens die Quelle für Rostand. Nach den Ausführungen der Generalin war ein ähnliches Vorkommnis unmöglich. Wie zu erwarten ist, hatten die Lieferanten keinen Zutritt zur Kaiserin selbst. Es gehörte zu den Obliegenheiten ihrer Hofdamen, die notwendigen Änderungen anzugeben 4).

Beim Anblick von Marie Louise tritt die gegensätzliche Vorstellung, das reine Bild Josephinens, vor das geistige Auge des Helden. Der Gedanke ist nicht fernliegend. Zu Prokesch sagte einmal der Herzog: „Wenn Josephine meine Mutter gewesen wäre, so wäre mein Vater nicht in St. Helena." 5)

Durch Fanny Elßler wird der Herzog in den Fluchtplan eingeweiht, der nicht ganz undenkbar ist. Unmöglich ist nur das Wiederfinden mit Flambeau, wenn auch die Robinson-Behausung
im Park von Schönbrunn nicht einmal erfunden ist. Es war nur keine Höhle, die der Prinz sich als Kind mit seinem Lehrer Collin dort gebaut hatte, sondern eine Kammer in einem Erdhügels 6). Immerhin konnte niemand in dem engen Raum 24 Stunden zubringen und beim Herauskommen den Eindruck eines Festteilnehmers erwecken.

In derselben Szene werden einige Wiener Namen genannt 7).

Die Verschwörung nimmt ihren Lauf. Der Herzog sorgt selbst dafür, daß die Gräfin Camerata sich zu dem Jagdpavillon begibt, in dem Therese von Lorget ihn zu treffen hofft. Er ahnt nicht, in welche Gefahr er seine Anhängerin schickt. Dort wartet bewaffnet Tiburtius. Er denkt auch kaum an die Enttäuschung, die er Therese bereitet; die Leichtigkeit, mit der er sich darüber hinwegsetzt, scheint zunächst nicht ganz dem Charakter auch von Rostands Helden zu entsprechen und ist nur so zu erklären, daß er jetzt allein von dem Gedanken an seine Flucht beherrscht wird.

Als das Fest seinen Höhepunkt erreicht hat, wird der Fluchtplan ins Werk gesetzt. Die Gräfin Camerata, die nun von den Festteilnehmern für den Herzog gehalten wird, verläßt den Park. Es glückt trotz einer Verwicklung am Ausgang. Von nun an ist der Herzog unbewacht und dadurch in den Stand gesetzt, sich an die verabredete Stelle bei Wagram zu begeben, wo alles zurFlucht bereit ist.

Er fühlt sich schon wie im Glanz der Krone, die ihm nun sicher zu sein scheint. Sein Geheimnis drängt sich ihm über die Lippen, besonders in einer freudigen Erregung über Marmont, der im Laufe des Abends die Partei Napoleons ergriffen hat; er ernennt Marmont, der nicht recht weiß, was er denken soll, zu einem kaiserlichen Marschall. Dem nach Paris Zurückkehrenden trägt er Grüße an die Vendômesäule auf 8).

Dem wirkungsvollen Aktschluß liegt ein historischer Ausspruch zugrunde. Wertheimer erzählt, daß der Herzog öfters die Gelegenheit wahrnahm, einem in sein Land zurückkehrenden Franzosen zu sagen: «Saluez de ma part la Colonne de la place Vendôme.» 9)

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1) Ménéval a. a. 0. p.318.
2) Billard a. a. 0. p. 7.
3) Welschinger p.103/04.
4) Mme Veuve du General Durand Memoires sur Napoleon, l'impératrice Marie Louise ect. p.57/58.
5) Ménéval, Marie Louise p.10.
6) Zu vergl. p.12.
7) Zu vergl. p.64/65.
8) La Colonne de la Grande Armee, die auf dem Vendômeplatze errichtete Säule zu Ehren der großen Armee.
9) Wertheimer a. a. 0. p. 369 Anm. 2. Der Ausspruch des Herzogs ist in französischer Sprache angeführt.

 

 

Ottilie Lemke (1929)

 

 


Letzte Aktualisierung: 07.11.2005