Der historische Hintergrund zu dem Drama von Edmond Rostand „Der junge Adler" (L'Aiglon)

Der Verlauf der Handlung.

 

 

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Der erste Akt.
Dem geschichtlichen Urbild nähert sich naturgemäß der erste Akt am meisten. Er bildet die Einführung in die Verhältnisse, aus denen die Handlung sich entwickeln wird, wobei einige erfundene Personen neben den historischen fördernd zu wirken haben. Sie waren nicht zu entbehren, wenn das Drama ohne bedeutende Freiheiten aufgebaut werden sollte.
Beim Aufgehen des Vorhangs ertönt Musik und Geplauder, und man glaubt zunächst nur, das bunte Bild einer Gesellschaft zu sehen, die den Tag genießt; erst allmählich wird der Zuschauer erkennen, daß die Strömungen der Zeitgeschichte richtunggebend die oberflächliche Unterhaltung bestimmen.

Im Mittelpunkt der vornehmen Gesellschaft steht Marie Louise. Sie ist weniger gealtert zu denken, als sie nach einem Bild jener Zeit gewesen sein muß, auf welchem auch die habsburgische Unterlippe unschön hervortritt 1). Die Herzogin ist nach Baden gekommen, „um sich zu zerstreuen" 2), also um ihre trüben Gedanken zu vergessen; denn sie beweint den General Neipperg, den sie vor ein und einem halben Jahr verloren bat. Diese Zerstreuung betreibt sie nun mit Eifer, unterstützt von Damen und Herren der Hofgesellschaft. Es ist vom Dichter beabsichtigt, daß wir nur einen Ausschnitt aus der Hofgesellschaft sehen. Der Hof wie auch die Wiener Gesellschaft teilte sich in Kreise, ohne daß diese fest gegeneinander abgeschlossen gewesen wären; es ist ein Vorgang, wie er sich in großen Lebensgemeinschaften häufig vollzieht 3). Marie Louise gehört zu den Musizierenden; ernsthaft ist ihr Spiel nicht, es ist fast eine Spielerei. Als ob sie unbeschäftigt wäre, tritt Bombelles an sie heran, um sie vom Eintritt ihrer neuen Vorleserin zu benachrichtigen.

Die Figur der Therese von Lorget sowie die ihres Bruders Tiburtins halte ich für erfunden. Billard, der ausführlich von der Familie Bombelles und vom Hofe Marie Louisens handelt, er wähnt keine französischen Verwandten von Bombelles, in denen sich die Urbilder vermuten ließen 4). Rostand brauchte für sein Drama die beiden Personen. Therese erfüllt einen mehrfachen Zweck. Zunächst kommt sie unbefangen und unerfahren nach Wien und erwartet, in der Herzogin von Parma zu finden, was diese sein müßte, Exkaiserin und einstige Gattin Napoleons. Indem wir ihre wachsende Enttäuschung mit erleben, gewinnt das Bild der Herzogin vor unseren Augen an Klarheit. Wem aus der Umgebung Marie Louisens hätte Rostand diese Unkenntnis der Sachlage zuschreiben sollen? Ferner mußte neben der ehrgeizigen Napoleone Camerata und der mütterlichen Erzherzogin Sophie ein weibliches Wesen auftreten, das den Helden um seiner selbst willen liebte.

Theresens Bruder ist ebenfalls nur aus Gründen des dramatischen Aufbaues erfunden. Er ist der Attentäter, der dem Herzog auflauert und statt seiner Napoleone Camerata in ihrer Verkleidung trifft. Mit der Gefahr, in welche die Gräfin um des Herzogs willen gerät, gewann der Dichter einen psychologisch verständlichen Grund für das Aufgeben des Fluchtgedankens.
Noch ein äußerer Grund spricht für meine Ansicht. Bei allen historischen Personen - ihrem Namen und ihrem Verhältnis zueinander - beansprucht Rostand in weitem Maße unser Vertrauen; über die Geschwister Lorget dagegen werden wir, wenn auch in unauffälliger Weise, durch ein Gespräch genau in Kenntnis gesetzt. Sie sind Kinder einer Emigrantenfamilie, verwandt mit Bombelles. Therese ist, wie viele Emigranten, in die Heimat zurückgekehrt, während Tiburtins in die österreichische Armee eingetreten und dort geblieben ist. Daß er sich ganz als Österreicher fühlt, beweist seine Äußerung: „die Unsrigen haßten Bonaparte seiner Zeit 5). Die Eltern sind gestorben, denn Marie Louise spricht von dem Wenigen, das Therese bleibt 6). Angehörige besitzt sie noch; sie sagt einmal: „Fern von den Meinen." 7) Als junger Offizier lebt Tiburtins verschwenderisch und hat seine Schwester so sehr in Anspruch genommen, daß sie nicht mehr ohne eigenen Verdienst leben kann. Ein Verwandter - Bombelles - hat ihr die standesgemäße Stelle als Vorleserin am Hofe von Parma verschafft, was durchaus wahrscheinlich wirkt, da Bombelles schon als Nachfolger für die Stelle Neippergs gedacht ist.

In der ersten Szene werden mehrere Namen genannt. Die Herzogin von Berry, der zu gleichen Marie Louise sich rühmt, ist die Schwiegertochter Karls X. und Mutter jenes Heinrich, der bald darauf von Metternich als zukünftiger Befreier Frankreichs, Heinrich V., genannt wird; Heinrich war die Hoffnung der Legitimisten. Der Baron von Vitrolles spielte eine Rolle bei den Verhandlungen zwischen den Verbündeten und den Bourbonen, überbrachte aber nicht selbst die glückliche Nachricht von der Berufung Ludwigs XVIII. 8). Sandor ist der Name einer ungarischen Familie. Marie Louise spricht von mehreren Gliedern derselben. In Szene 5 heißt es, Sandor werde kutschieren. Hier ist offenbar Graf Moritz Sandor gemeint, der 1835 Leontine, die Tochter Metternichs, heiratete. Er war „der berühmteste und verwegenste Reiter" 9), der auf dem Reitkorso die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog 9). Es ist nicht unbeabsichtigt, wenn hier von ihm gesagt wird: «C'est Sandor qui conduit.» Es liegt ein Hinweis auf seine Fähigkeit darin. Thalberg ist der erwähnte Wiener Pianist. Montenegro, ein Spanier, der sich in Diensten der Karlisten in Wien befindet. Der Name Fontana erscheint in einer Stammtafel der Familie Neipperg. Eine Urenkelin des Grafen Albert Neipperg heiratete einen Marquis Paveri-Fontana 10).

Unzutreffend wird der Herzog von Reichstadt Oberstleutnant genannt, er war damals Major. Die Episode mit den Schmetterlingen findet sich bei Welschinger, wo sie von dem Sohn des Arztes erzählt wird 11). Sie ist in der Hauptsache unverändert von Rostand verwendet worden. Die Sammlungen des Arztes sind dem Herzog gezeigt worden, ohne daß sie sein Interesse erregt hätten; der Wortlaut seiner Äußerungen stammt von Rostand.

In der eleganten, genießenden Gesellschaft darf Metternich nicht fehlen. Er „schwimmt wie ein Fisch in dem bewegten Hofleben" 12), Zerstreuung ist ihm Bedürfnis; aber bei allem Vergnügen behält er die Geschäfte im Auge. Seine Tätigkeit duldet kein vollständiges, wenn auch kurzes Ausspannen. Er empfängt Gentz, seinen Sekretär, und einen französischen Diplomaten. Gentz hat den Anordnungen des Staatskanzlers die schriftliche Form gegeben und legt die Papiere zur Unterschrift vor, außerdem bringt er einen Brief mit von einem Grafen von Otranto. Der Schreiber ist der Sohn Fouchés, des Polizeiministers unter Napoleon. Er erbietet sich, den Herzog von Reichstadt als Napoleon II. nach Paris zu führen, und führt eine Reihe Gleichgesinnter namentlich an. Es ist der Brief, von dem Prokesch Osten ausführlich erzählt. Prokesch Osten zweifelt nicht daran, daß der Brief geschrieben worden ist und in die Hände Metternichs kam; aber allein die Tatsache, daß er den Brief von Fouché selbst geschrieben sein läßt, der 1820 gestorben war 13), erweist seine Angaben als ungenau und daher unglaubwürdig. Wertheimer stellt das Vorhandensein des Briefes in Abrede 14). Er läßt nur gelten, daß „später", als die Unzufriedenheit mit Louis Philipp immer mehr zunahm, Anträge wegen der Rückkehr des Herzogs an Metternich gelangten. Bei der Angabe „später" kann es sich meines Erachtens nur um das Jahr 1831 handeln. Im Frühling 1832 war die Krankheit des Herzogs wahrscheinlich schon weiteren Kreisen bekannt und auch für die größten Optimisten unter seinen Anhängern nicht mehr zu leugnen.

Gentz ist nach der komischen Seite hin übertrieben. Ein aufdringliches Hantieren mit Parfüm und Süßigkeiten finde ich nirgends erwähnt. Bei der Beschreibung der kleinen eleganten Räume der Gentzischen Wohnung sagt Elise von Bernstoff nur, daß „dem Geruchs- und Gesichtssinn und der Bequemlichkeit auf alle Weise"15) geschmeichelt wurde. Bei Rostand erscheint Gentz
nur mit seinen nicht zu leugnenden Lastern. Sein großer Fleiß, der ihm die gesellschaftlichen Verpflichtungen als notwendiges Übel erscheinen ließ, kommt nicht zum Ausdruck.

Der Empfang des Franzosen ist eine Abweichung. Der Thronwechsel wurde in Wien durch General Belliard selbst angezeigt. Belliard wurde von Kaiser Franz und von Metternich - wie ich vermute, von diesem in der Staatskanzlei - empfangen 16). Mit seiner Bitte, dem Herzog von Reichstadt vorgestellt zu werden, wurde er abschlägig beschieden. Rostand wollte dieses Zusammentreffen nicht entbehren, zugleich aber einen groben Verstoß gegen die geschichtliche Tatsache vermeiden. Daher führte er statt Belliards selbst seinen Abgesandten ein. In den Äußerungen Metternichs diesem gegenüber erscheint der Herzog von Reichstadt unverkennbar als Drohmittel; somit entspricht, was Metternich sagt, seiner tatsächlich beobachteten Politik. Er versichert, daß man in Wien Louis Philipp anerkenne, gibt aber deutlich zu verstehen, daß man sich gegebenenfalls der Rechte des kaiserlichen Enkels erinnern werde. Dies könne geschehen, wenn die Regierung sich zu sehr den Formen der Republik nähern sollte. Er erwähnt dabei Royer-Collard. Royer-Collard stand an der Spitze einer Vereinigung, die sich „Gesellschaft der Freunde der Preßfreiheit" nannte und hatte durch sein Wirken in der Öffentlichkeit Anteil am Sturz Karls X.

Der Ausspruch, man sei in Wien nicht von „engelhafter Gesinnung" 17), klingt an eine Stelle aus einem Brief Metternichs an und läßt vermuten, daß Rostand die Korrespondenz des Staatskanzlers mit Paris gekannt hat. Metternich schreibt unter dem Datum des 18. Januar 1831 an Graf Apponyi, den Gesandten in Paris: „Wir sind nicht von engelhafter Geduld und werden unsere ganze Kraft zeigen, wenn wir gezwungen sein sollten, uns zu schlagen." 18)

Die Unterhaltung wird unterbrochen durch Marie Louisens Ruf nach ihrem entflogenen Papagei Margharitina. Rostands Quelle ist Ménéval. Ménéval erzählt von einem Papagei desselben Namens, durch dessen Geplapper die Herzogin sich zerstreuen ließ 19).

Rostand hat die Tatsache zu einem doppelten Zweck sehr geschickt benutzt. Da der Franzose eben geäußert hat, die Herzogin denke wohl nur an den jungen Adler, so kommt ein Gegensatz zum Ausdruck, der dem Dichter einen Bühnenerfolg sichert und außerdem Marie Louise treffend charakterisiert. Sie denkt an nichts weniger als an ihren Sohn oder gar an sein mit Füßen getretenes Recht. Sie ist nur mit ihren Liebhabereien beschäftigt und legt den größten Wert auf eine Ehrenbezeugung, zu der sie ein Recht hat. Der Attaché bietet seine Hilfe zum Wiederfinden des entflogenen Vogels an, wenn „Ihre Durchlaucht" es wünsche, worauf er keiner Antwort gewürdigt wird. Metternich klärt ihn darüber auf, daß er den Fehler gemacht habe, nicht „Majestät" zu sagen.

Die Erlaubnis, die weiße Kokarde mit der dreifarbigen zu vertauschen, konnte Metternich nicht geben. Dazu mußte der Befehl aus Paris kommen, und das war im August noch nicht geschehen. Als Mitte September 1830 einige Soldaten die weiße Kokarde wegwarfen, mußten sie dieselbe auf eigene Kosten beschaffen und wieder anlegen, weil noch kein Befehl zur Änderung gekommen war 20). Somit konnte sich auch der Vorgang, daß der Herzog die beiden Kokarden vergleicht, nicht in Wirklichkeit zutragen.

Der Salon füllt sich. Eine ganze Schar von Damen und Herren, die Rostand zum Teil nicht mit Namen nennt, tritt ein, unter ihnen die Meyendorffs (bei Rostand ist der Name mit einem f geschrieben) und die Comleys. Immer unterbrochen von Unterhaltung der anderen, sprechen die Herren von Politik. Man hört „Vulkan, Liberalismus, Hydra". Sie können nicht leugnen, daß in Frankreich die Parteien sich bekämpfen, aber wie die Dinge liegen, ist eine andere Tatsache schlimmer.

Es kann nicht verborgen bleiben, daß der Name des Herzogs von Reichstadt in aller Munde ist. Die Dame, die Gentz ein neues Parfüm zum Geschenk macht, hat wohl nichts Besonderes dabei vermutet, daß es gerade Veilchenduft ist, und nicht beachtet, daß „Herzog von Reichstadt-Wasser" darauf steht. Der kleine Flakon ist nur einer von den unzähligen Gegenständen, die mit Bild und Namen des Herzogs versehen waren und von Hand zu Hand gingen. Ich habe selbst im Privatbesitz eine Pfeife gesehen mit der Figur des Herzogs von Reichstadt in feiner Bildhauerarbeit. In der 10. Szene des zweiten Aktes nennt Flambeau eine ganze Menge von Gebrauchsgegenständen mit dem Bild des Herzogs, darunter auch eine Pfeife von der Art der eben beschriebenen 21). Metternich entfernt das Papier von dem Flakon. Er verhindert auch, daß die ahnungslose Dame, die Olga genannt wird, gerade „Die beiden Grenadiere" vorträgt, als Gentz, der Deutsche und Literat, seinen Kompatrioten Heine vorschlägt, er ist jedoch machtlos der Nachricht gegenüber, daß in Paris in allen Theatern Stücke gespielt werden, „deren Mittelpunkt der große Kaiser ist" 22). Daß in den Kreisen der Bonapartisten davon gesprochen wurde, die Asche Napoleons zu überführen, steht im Einklang mit der entfalteten großen Regsamkeit der Partei. Es entspricht der Auffassung des Wiener Hofes, wenn Sandor und Bombelles in der Vorliebe für jene Stücke nur eine Mode sehen. Den jungen Tiburtins läßt Rostand den Schluß ziehen, daß man nicht sagen könne, unter wem einmal ruhige Zustände in Frankreich eintreten würden. Damit ist Metternich Gelegenheit zu einer Antwort gegeben. Er nennt Heinrich V. und meint damit den nachgeborenen Sohn des 1820 ermordeten Herzogs von Berry. Heinrich hieß damals Herzog von Bordeaux, nannte sich später Graf von Chambord und blieb der Kronprätendent der Legitimisten.

Die Erregung erreicht ihren Höhepunkt, als der Ruf: „Es lebe Napoleon!" ertönt. Ein impulsiver Zuruf der Soldaten beim Erscheinen ihres jungen Führers war nichts Ungewöhnliches. Prokesch Osten bestätigt die Tatsache, leider ohne den Zuruf wörtlich wiederzugeben 23). Der Zwischenfall erinnert Marie Louise an eine Huldigung, die ihr auf der Reise zu ihrem Herzogtum zuteil wurde. Es ist das Vorkommnis, das sich in Verona zutrug und bald darauf in Bologna wiederholte. Rostand benutzt den Bericht aus Welschinger; der größeren Einheitlichkeit wegen ist der Vorgang nach Parma verlegt 24).

Kurz vor dem wirkungsvollen Eintritt des Helden erscheint Dietrichstein. Er waltet noch voll seines Amtes als Erzieher. An mehreren kleinen Zügen ist das Urbild zu erkennen. Seine
erste Äußerung bezieht sich auf die mangelhafte Rechtschreibung seines Schülers. Der Prinz hat, wie er es öfters tat, aus Übermut Fehler gemacht. Bald darauf erteilt der Graf seinem Zögling eine Anweisung, die vollständig in den Wind geschlagen wird. Dietrichstein ist im Recht, wenn er dem Herzog nahe legt, ein paar freundliche Worte mit dem englischen Gesandten zu sprechen. Aber jede Vorschrift empfand der Herzog als Zwang, so daß gewöhnlich das Gegenteil erreicht wurde.

Ziemlich spät, erst im achten Auftritt, erscheint der Held „im Reitkostüm, die Blume im Knopfloch; er lächelt nie" 25).

Bei der Zeichnung des Helden haben dem Dichter zwei Bilder zur Vorlage gedient, eine aquarellierte Bleistiftzeichnung von Ender und ein Gemälde von Daffinger, beide aus dem Jahr 1830. Der Herzog, wie er im ersten Akt erscheint, trägt deutlich die Züge des ersten Bildes. Er ist dargestellt im braunen Reitkostüm mit dem schwülstigen Kragen und der hohen schwarzen Halsbinde, wie es der Mode der Zeit entsprach. Das üppige blonde Haar, links gescheitelt, fällt auf der rechten Seite in die Stirn. Der in die Ferne gerichtete Blick der blauen Augen gibt dem jungen Gesicht etwas sehr Ernstes. Es ist jedoch kein schwermütiger Zug, wie man nach der Ansicht von Rene Doumic vermuten sollte. Am mal du siede hat der Herzog nicht gelitten. Der Herzog sitzt in gerader Haltung. Links neben ihm steht ein kleines Mädchen, auf dem rechten Knie hält er einen noch kleineren Knaben. Die Kinder sind eine Prinzessin von Salerno 26) und Erzherzog Franz Joseph 27). Im Jahre 1816 heiratete Clementine, eine Tochter des Kaisers, einen Herzog von Salerno. Das kleine Mädchen kann also eine Enkelin von Franz I. sein. Der kleine Erzherzog ist der Sohn von Erzherzog Karl und Erzherzogin Sophie. Die Angabe, daß der Herzog in Baden viel im Reitkostüm zu sehen war, fand Rostand bei Welschinger 27).

Das Erscheinen des Herzogs in dem Augenblick, als eine auf ihn zutreffende Stelle aus Lamartine vorgelesen wird, löst einen nicht geringen Schrecken bei den Anwesenden aus. Marie Louise versucht, von etwas Gleichgültigem zu sprechen; der Herzog kommt jedoch mit großer Sicherheit und unbekümmert um die Wirkung seiner Worte auf die unterbrochene Lektüre zurück. Er zeigt nicht die geringste Bewegung, weder bei der unerwarteten Apotheose, noch bei der allgemeinen Verlegenheit, die ihm nicht entgangen sein kann. Mit derselben Unbeweglichkeit läßt er die Bewunderung der Kinder über sich ergehen, die Sophie zu ihm führt. Nun wird fast genau die Gruppe gestellt, die das Bild zeigt. Dieselben Kinder konnte Rostand nicht einführen; das verbot sich schon deshalb, weil Franz Joseph einjährig war. Es sind nicht einmal bestimmte Kinder der kaiserlichen Familie gemeint, was jedoch möglich gewesen wäre. Die Kinder eines Bruders 28) von Marie Louise waren damals in dem angegebenen Alter. Daß Rostand nähere Angaben für unwesentlich und unnötig hielt, geht auch aus einer kleinen Ungenauigkeit hervor. Vor Beginn der fünften Szene heißt es, daß Sophie begleitet werde von einem kleinen Knaben und zwei kleinen Erzherzoginnen. Dann aber haben zwei Knaben zu sprechen.

In dem dauernden Kampf des Helden, der mit seinem Erscheinen einsetzt, bildet die Unterhaltung mit Metternich und Gentz den ersten Waffengang. Der Herzog findet die weiße Kokarde. Metternich weicht einer Orientierung aus und zieht die Sache ins Oberflächliche. Der Herzog durchschaut die List, geht scheinbar auf die Ansicht Metternichs ein, gibt ihm aber trefflich zurück. Nachlässig verabschiedet sich der Staatskanzler, noch nachlässiger antwortet der Herzog, nur mit einer Bewegung des Kopfes. Die Art, wie der Vorgang sich abspielt, ist so wenig theatralisch, daß sich etwas Ähnliches wohl zugetragen haben kann. Von allen Szenen, in denen der Herzog mit seinem Todfeind zusammentrifft, scheint mir diese sich der Wirklichkeit am meisten zu nähern.

Auch in der Unterhaltung mit Gentz behält der Herzog die Führung. Auf die tatsächlich gut gemeinten Ratschläge geht er nicht ein, der alte Lebemann besitzt nicht sein Vertrauen. Von
sehr hohem Standpunkt, als wäre er der Ältere, erinnert er jenen an seine Jugend. Gentz verspürt einen Hauch von' des Prinzen Geist. Es klingt wie Hohn und ist doch ernst gemeint, als er auf dessen Beruf zu regieren hinweist. Darüber jedoch spricht der Herzog nur mit wenigen Vertrauten. Er bricht das Gespräch kurz ab.

Um so mehr verlangen seine geheimen Gedanken nach der Form des Ausdrucks. In der Unterhaltung mit dem Schneider, den Marie Louise aus Paris hat kommen lassen, ist er mit jedem Wort der Sohn Napoleons, und als er erkennt, daß er zu Anhängern spricht, redet er frei. „Sein Freund Metternich", wie er mit leichtem Spott sagt, ist nicht zu übergehen, außerdem fühlt er sich noch nicht reif, er braucht noch ein Jahr der Vorbereitung. Hier unterläuft dem Dichter die unmögliche Hyperbel der dreihundert schlaflosen Nächte. Napoleone Camerata, die in der Verkleidung einer Modistin den Schneider begleitet hat, vermag nicht, ihn zur Tat zu begeistern. Die Gräfin Camerata erscheint hier zum ersten Male, und zwar gleich abenteuerlich und verwegen. Sie ist von den historischen Personen am meisten verändert, sie steht geradezu auf einer Stufe mit den erfundenen; mit ihnen hilft sie, die Katastrophe herbeizuführen.

Wenn er sich auch nicht reif fühlt, so zeigt der Herzog doch, daß er über die Taten seines Vaters Bescheid weiß. Die beiden aus Paris Gekommenen haben nach der dort herrschenden Ansicht es nicht gewußt. Die Geschichtsstunde bietet die beste Gelegenheit zur Zerstörung der darüber bestehenden Zweifel. Baron Obenaus macht den gewagten Versuch, Glück und Ruhm Napoleons aus der Geschichte zu streichen. Der Herzog unterbricht ihn wiederholt. Endlich ergreift er das Wort und verfolgt nun mit immer größerem Feuer die Ruhmeslaufbahn seines Vaters. Er hat dafür gesorgt, daß die beiden Bonapartisten ihn hören. Die Gegenwart der Verschwörer, der ganze Verlauf der Stunde, das Erstaunen und Entsetzen der Lehrer, ihre Beschwerde bei Marie Louise gehören allein dem Drama an. Dietrichstein hielt Marie Louise über den Unterricht auf dem laufenden und macht oft aus seiner Unzufriedenheit kein Hehl; eine Beschwerde, daß der Prinz sich verbotene Bücher verschafft habe, worum es sich offenbar hier handelt, kam jedoch nicht vor.

Das Folgende ist in mehrfacher Beziehung von Bedeutung. Wir erfahren Marie Louisens gänzliche Verständnislosigkeit für ihren Sohn. Sie hat erklärt, daß er die Natur hasse und daß ihm die Musik ein Greuel sei. Nun muß sie erfahren, daß er beides liebt und versteht. Der Herzog war nicht musikalisch; daß jedoch die Poesie jener entfernten Klänge auf ihn gewirkt habe, hat nichts Unwahrscheinliches. Um seine elegische Stimmung zu verscheuchen, erinnert sie ihn an die hohe gesellschaftliche Stellung, die er nicht zuletzt auch ihrem Einfluß verdanke. Sie trat für den Herzogstitel ein, wie auch dafür, daß der Name „Reichstadt" in die abgekürzte Form seines Titels aufgenommen wurde, statt „Buschtiehrad", weil außerhalb Böhmens niemand dies aussprechen könne 29). Sie erinnert ihn daran, daß er der Erste nach den Erzherzögen sei, und spricht damit urteilslos die Rangbezeichnung nach, ohne zu verstehen, daß demnach ihr Sohn nicht einmal der letzte unter den Angehörigen der kaiserlichen Familie ist. So lagen die Dinge in der Tat; daß Marie Louise davon gesprochen hat, mag mehr als einmal vorgekommen sein. Die Wirkung ihrer Worte ist denkbar, aber aufs höchste gesteigert. Der Held, zu Anfang ruhig, mehr und mehr aus sich heraustretend, erscheint jetzt ganz als das, was er ist, der Sohn seines großen Vaters, der junge Adler, dem die Schwingen wachsen. Die Wesensverschiedenheit von Mutter und Sohn tritt in das grellste Licht. Es ist ein feiner, seiner edlen Natur entsprechender Zug, daß die Leichtfertigkeit Marie Louisens bei ihrem Sohn weder Ärger noch Bitterkeit erregt, nur das Gefühl des Mitleids.

Die letzte Szene bringt die Erklärung für die Geschichtsstunde, die der Dichter uns noch schuldig war und die er ebenso erfunden hat. Fanny Elßler erscheint, und ein Geschichtsunterricht anderer Art nimmt seinen Anfang.

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1) Das Bild ist bei Billard wiedergegeben.
2) Akt I Sz. 2.
3) Srbik weist darauf hin a. a. 0. I p. 186.
4) Mit Sohn und Tochter des Grafen Bombelles liegt eine schwache Ähnlichkeit vor.
5) Akt I Sz. 1.
6) Akt I Sz. 1.
7) Akt I Sz. B.
8) Wertheimer p.82ff. ,
9) Moriz Berman, Alt- u. Neu-Wien p. 1061.
10) Billard p.232.
11) Welschinger a. a.0. p. 333 ff.
12) Heinr. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert Bd. 1 p. 602.
13) worauf Masson, Revue de Paris 1900 u. Wertheimer p. 359 hinweisen.
14) Wertheimer p.359.
15) Elise von Bernstorff a. a. 0. I p. 164.
16) Aus den Tagebüchern des Grafen Prokesch von Osten, 45. Tagebuchaufzeichnung vom 27. August 1830. General Belliard langt im Namen des nunmehrigen Königs von Frankreich hier an und präsentiert sich en frac dem Fürsten Metternich. ibid. p. 48. Tagebuchaufzeichnung vom 4. September 1830. Belliard hat seine Audienz beim Kaiser (am 5. September erfolgte die Anerkennung).
17) Akt I Sz. 3 d'une humeur angélique.
18) ... forcés de nous battre, ... nous ne sommes pas assez anges pour ne pas faire feu de toutes nos batteries. Mitgeteilt bei Masson, Napoleon et son Fils p.422.
19) Meneval, Marie Louise etc. p. 201. Nous savons que Marie Louise eut une perruche du nom de Margharitina ä laquelle alle devant tendrement s'attacher et dont le babillage continu, semble-t-il, lui apporta d'utiles conso
lations ä l'époque de la mort du comte Neipperg. Bei Welschinger p. 217 wird ebenfalls der Papagei Margharitina erwähnt.
20) Castellane Bd. 2 p. 380 (unter dem Datum des 16. September 1830). Vai feit rétablir dans le 10e de ligne les fleurs de lis aux frais des soldats qui les avaient jetées, ... rien ne devant être changé dans l'uniforme sans un ordre du ministre de la guerre.
21) Vergl. Wertheimer p.264 und Welschinger p.236.
22) Castellane erzählt wohl als erster von diesen Stücken II p. 393; Wertheimer spricht davon p.355.
23) Wertheimer p.429. Wertheimer beruft sich auf Prokesch Osten.
24) Welschinger a. a. o. p.204/05.
25) Angabe vor dem B. Auftritt.
26) Mitteilung des Direktors der graphischen Sammlung Albertina, Wien.
27) Welschinger p.333.
28) Erzherzog Rainer, vermählt mit Elisabeth von Savoyen. 3 Töchter waren 9-, 8-, 7 jährig, 2 Söhne 6- und 4 jährig.
29) Wertheimer p.261.

 

 

 

Ottilie Lemke (1929)

 

 


Letzte Aktualisierung: 07.11.2005