Kiefern und eine kleine Birke (1907)

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Dr. Jankowsky und ich gingen miteinander, als die Sonne hinter den Sandhügeln der Putschine1 unterging. "Wie die Kiefernstämme leuchten, Herr Dr., sehen Sie nur , so als glühten sie von innen heraus. Er blieb stehen, sah von den Kiefern nach dem Horizont, indem er dabei das linke Auge zukniff, als zielte er. "Es wird morgen regnen." Mich überkam hier draußen ein seliges Gefühl der Entspannung. "Wie still es ist." "Stil! Das nennen Sie still! Hören Sie doch einmal genau hin." Er hatte recht. Ein Wagen rumpelte auf der Chaussee; ein Hund schlug an, und von der Stadt her kam ein unbestimmtes Summen und Rauschen, als hielte man eine Muschel ans Ohr."
Still, so richtig still ohne störende Menschennähe hat man es leider nur ganz selten; einmal an einem Sylvesterabend zu Hause in Eggleningken; es schneite nicht, nur kleine Schneekristalle hielten sich schwebend in der Luft. Ich stand so ruhig, daß ein Hase ohne Scheu bis zu mir heranhoppelte und meine Stiefelspitze beschnupperte. Da mußte ich doch lachen, und der Hase bekam einen Schreck. Rätsch, rätsch, schallte es mißtönend in meine Worte. "Ein Specht! Im Frühling trommelt er manchmal auf einen Ast, daß es schallt, wahrscheinlich, um das Weibchen zu locken. Ich habe es oft gehört." Wir standen still.
"Mit euch Herr Dr., zu spazieren, ist ehrenvoll und bringt Gewinn. Schade, daß wir uns nicht früher kannten; wir hätten uns doch einmal in Königsberg treffen müssen, als Sie studierten." "Ich habe Sie auch einmal gesehen." "Wie interessant! Wo denn?" "Auf den Hufen. Sie hatten einen für Ihre Kopfform viel zu großen Hut mit Rosen auf und sahen ein wenig schmal -" "und blaß aus," ergänzte ich. "Ja,und ein bißchen melancholisch. Mein Begleiter grüßte Sie und erzählte mir, daß Herr G.E. Ihnen einen ganzen Winter nachgelaufen wäre, um sich dann zurückzuziehen, als er von Ihrem Vermögensverlust hörte." "Sollte das wirklich allein der Grund gewesen sein? Ich habe mir damals sehr den Kopf zerbrochen, warum er so plötzlich nichts mehr von sich hören ließ; jetzt würde ich mich nicht mehr wundern. Liebe kommt und geht, ganz ohne Grund."

"War er Ihre große Liebe?" "Ach behüte, meine große Liebe waren immer Sie - gleich beim ersten Sehen in der Bahnhofstraße." "Ach," sagte er und lächelte, "ja dann - dann verstehe ich nicht, warum wir uns nicht küssen." Ich seufzte - wie schien er mir resigniert und welterfahren. "Immer dasselbe, Herr Dr., Männer sind uniform. Eine große Liebe hat mit Küssen gar nichts zu tun." "Nur mit Heiraten wahrscheinlich, und dann sitzt man in der Misere, die Frau scheuert Treppen, und die große Liebe ist längst fort." "Nein, das stimmt nun auch wieder nicht; ich sprach von einer großen Liebe ganz zur eigenen Freude. Sehen Sie, für Menschen Ihrer Art, die sich leicht langweilen, ist sie direkt als Unterhaltung zu empfehlen. Wie spannend ist mein Verkehr mit Ihnen, ohne daß wir zusammenzukommen brauchen. Wie viele Gespräche habe ich ganz ohne Ihr Zutun mit Ihnen geführt, wie viele Debatten ausgefochten. Ihr Bild hat in meinem Herzen - verzeihen Sie, bitte, diese lyrische Bezeichnung, aber wenn man von Liebe spricht, kommt man ohne gewisse abgestempelte Begriffe nur schwer aus - ja , also wie viele Wandlungen hat es durchgemacht, Inkarnationen, so zu sagen, auf der Ebene des rein Geistigen -."
"Und da würde ein Kuß uns doch auf die Ebene des Rein. Körperlichen -" "Bitte nicht." "Schön, er würde uns also euf die Ebene des Wirklichen führen." "Unmöglich, ich bin jetzt gerade am Anfang einer 3. Inkarnation; da ist vom Küssen oder nur Du-Sagen überhaupt nicht die Rede. Ja wenn Sie mich zufällig getroffen hätten, sagen wir am Ende der ersten Inkarnation oder in der Mitte der zweiten -" "Mir wird schwindlig." "Das kann ich verstehen; um die Liebe geistig und noch dazu einseitig zu erleben, muß man seiltänzerisch begabt sein. Wir sind jetzt auch am Waldesrand angekommen, der klassischen Bühne für abschiednehmende Paare; ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich das Wort "Liebespaare" sorgsam vermeide, um Ihnen nicht gegen Ihren Willen eine Rolle aufzudrängen, die Ihnen - vielleicht - nur zum Teil liegt".

Er lachte kurz auf und zog mich auf' einen Baumstamn neben einer kleinen Birke. Ich hielt seine Hand fest und streichelte langsam die schlanken Finger. "Ich liebe Ihre Hand. Ein Graf mit dem romantischen Namen Trenck hat mir einmal gesagt, daß man sich zuerst in die Hände verliebt." "Meinte er Sie?" "Vielleicht." Ich versuchte das verführerische Lächeln einer Circe, dessen Mißlingen er mit einem amüsierten Seitenblick verfolgte. "Wann sehen wir uns wieder? Wem Sie etwas vorgeplaudert im Waldesgrund, der ist Ihnen verfallen. Wie reizend! Vielleicht auf sieben Jahre?" "Er küßte sie, sie küßte ihn, ein Vöglein sang im Lindenbaum," summte er nach seiner Art leise vor sich hin. Ich stand auf. "Ich muß mich nun wirklich beeilen, um vor der völligen Dunkelheit in Bediglauken anzukommen. Unser Zusammensein war sehr schön, aber in Königsberg gehe ich wieder euf die Schule und habe für nichts und niemand Zeit."
"Und das Leben läuft inzwischen vorbei. Sie und Ihr ganzer Kreis lernen aus Büchern und leben in Büchern und wenn Sie wirklich mal dazwischen aufblicken und sich umschauen, dann sehen Sie Farben und Träume und erwarten himmelblaue und rosarote Wunder, und Sie sind doch jung und haben Blut in den Adern, Herr Gott, noch mal."

Er hatte gegen seine Gewohnheit schnell und erregt gesprochen. Er faßte nach meiner Hand, aber ich streichelte gerade die kleine Birke. "Das ist doch alles relativ, mein lieber Freund, ich und mein Kreis, wie Sie sagen, Sie meinen wohl meine nächsten Freundinnen, zeigen wie der Seismograph2 das Erdbeben, in unserem Innenleben Erschütterungen und Stimmungen, auch erotischer Natur an, die ein anders gearteter gar nicht wahrnehmen würde. Dieser Spaziergang, für Sie - nun sagen wir Himbeerwasser oder Limonade, mir fällt nichts Besseres ein - ist für mich wie Champagner, schon beinahe ein ausschweifendes Bachanal. Sie können ruhig lächeln, es steht Ihnen wunderbar, wenn Sie freundlich aussehen. Aber nun endgültig auf Wiedersehen!" "Und wann soll dies Wiedersehen sein?" "Also dann nicht auf Wiedersehen, sondern adieu, auf deutsch mit Gott," setzte ich beinahe ernsthaft hinzu. Er blieb sitzen, während ich vor ihm stand und mich an die kleine Birke lehnte.
Wir schwiegen, aber es war nicht das freundliche Schweigen gleichgestimmter Seelen, sondern drückende Stille, in der dunkles Gewölk aufsteigt, das Gewitter und Gefahrren birgt. Mir war es, als müßte ich reden, schnell, schnell, ehe mir die Kraft schwand, den Bann zu brechen.

"Abschiednehmen ist immer schwer, ja. Sie sprachen vorhin vom Schwinden der Liebe in der Ehe; und Sie haben nicht einmal ganz Unrecht. Ich habe mich schon als Kind bei der Spielopera gewundert, warum die Liebespaare so selig sind und die Eheleute so mißvergnügt und häßlich zueinander. Aber es gibt eben doch einen Grund, der denke ich, jeden die Ehe wünschen läßt." "Kinder?" "Seltsam, an Kinder habe ich nie gedacht, höchstens an ganz große, die wie Freunde sind, nein, aber ich leide so unter dem dauernden Abschiednehmen, vielleicht weil ich schon so früh ein eigentliches Zuhause verlor. Ich denke es mir herrlich, wenn man sich nach einer Gesellschaft nicht vor der Haustür zu trennen braucht, denn in dem gemeinsamen Heim wartet ja ein freundliches Paradies. Können Sie Französisch?" "Ich habe es sogar unterrichtet." "Ich denke nämlich an einen Vierzeiler, den ich seh liebe:

Partir, c'est mourir un peu,
C'est mourir à ce qu'on aime,
On laisse une partie de soi-même
A tout temps et en tout lieu."

"Nun übersetzen Sie."
"In Prima scheinen Sie ja nicht gerade unterrichtet zu haben. Ich habe versucht, es in Reime zu bringen, und Sie können urteilen, welche Fassung besser ist:

Scheiden ist ein wenig sterben,
Glück der Liebe wurde Leid,
Und die Welt will von uns erben
An jedem Ort, zu jeder Zeit.

Scheiden ist wie Tod im Glück,
Was wir Liebten, bringt uns Leid,
Etwas bleibt von uns zurück
An jedem Ort, zu jeder Zeit.

"Sagen Sie es noch einmal." "Ich werde es Ihnen aufschreiben." "Auf Ihr Bild?" "Ja gerne, wenn ich ein recht schönes habe." "Ich werde Ihnen schreiben," "Das wäre nett." "Und Sie antworten?" "Auch dies."
Er ging trotz der Dämmerung querfeldein den Abhang hinunter, sprang über einen Graben und winkte noch einmal zurück. Ich hatte den törichten Wunsch, ihm nachzueilen, oder ihn zurückzurufen, aber mit welchem Recht?
Ich empfand ja gar nicht mehr frei und natürlich und selig, wie damals, nach Miezels Hochzeit. War das nicht in mir wie Herbst, kaum daß mir ein Frühling geblüht, ohne daß mir ein Sommer Reife gebracht?
Es war erst Anfang August, aber wirklich, von der Birke glitt ein erstes gelbes Blatt langsam in Serpentinen auf meinen Schoß.

 


1 kleines Kiefernwäldchen auf eiszeitlichen Sanddünen, das sich zwischen dem Tilsiter Ortsteil Sperlingslust und den Bahnschienen, die nach Königsberg führen erstreckt. *)

2 Gerät, das Bodenerschütterungen von Erdbeben und anderen seismischen Wellen registrieren, erkennen und lokalisieren kann. **)

 

') mit Dank an Tatjana Hetzel, siehe auch http://www.tatjana-hetzel.de/html/reisebericht.html

**) aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2006
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Letzte Aktualisierung: 10.11.2007