Die Langendorfer

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Auf der Vue traf ich Mile Slottke, als ich vor dem Abendessen noch schnell einen Blick in die Weite tun wollte. Mile war schon 3/4 Jahr in Langendorf und, ähnlich wie ich, wollte sie sich als Hauslehrerin weiterhelfen. Auch sie hatte ihr elterliches Vermögen verloren, plötzlich, als sie hier zu Besuch weilte. Bis jetzt hatte sie noch einen kleinen Rest von den Einnahmen aus der Veröffentlichung eines Romans. Sie schrieb an einem neuen. Mile war zeitlos frisiert und zeitlos angezogen, ein schlichter Knoten, ein schlichtes Kleid ohne Verzierung oder Schmuck, nur vorn eine große, weiße Schleife. Sie war Ende 20, wie Conne.

Mile imponierte mir. "Sie schreiben gerade, ich störe." "Ach, nur ein paar Reihen." Sie reichte mir ein Blatt, und ich las leise:

"Als ich noch lebte fern, so fern der Welt,
in meinem Park hatte ich noch meine Träume,
Jetzt bin ich in die weite Welt gestellt,
Und immer enger werden meine Räume.
Wohl dem, der Raum zu weiten Träumen hat,
Die Welt, die Welt ist in deinem Traum ein Grab."

"Das sagt mir etwas Mile". "Behalten Sie's doch" "Danke; die neuen Dichter sind so ganz anders als unsere Dichter aus der Literaturstunde, Schiller, Goethe - es ist mit wenigen Ausnahmen alles so erhaben; es hilft uns nichts - ich meine ganz bescheiden uns - den kleinen Mädchen mit der großen Begeisterung, den großen Idealen! Es ist schon atemberaubend herrlich, wenn Marquis Posa ruft: "Ich lebe ein Bürger derer, die da kommen sollen!" und von Carlos: "Sagen Sie ihm daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird" - aber es gibt uns keine Hilfe im Alltag, bei den vielen kleinen Nöten, die doch eine große Not werden können. Vielleicht am ehesten Mörike. Da sind die Modernen anders. Flaischlen, ach, und die einzige Miegel. Ihre Gedichte las ich zum ersten Mal vor einem Jahr; sie sind eine Offenbarung; aber manche kann ich auch für mich allein nicht laut lesen; wenn eine meiner Freundinnen "das Mädchengebet", ganz laut vorträgt, weiß ich wirklich nicht, wohin ich sehen soll." "Es ist doch alles sauber, nur echtes, starkes Gefühl. Dehmels Sprache - nun, ja als Mann ist es noch anders." "Ich kenne ihn gar nicht." Mile zitierte:

"Aber komm mir nicht im langen Kleid,
Komm gelaufen, daß die Funken stieben,
Beide Arme offen und bereit.
Auf mein Schloß führt keine Goldtreppe,
Über Felsen geht's, reiß ab die Schleppe,
Nur in kurzen Röcken kann man lieben!"

"Nein, nein; das hat nicht einmal die Schönheit als Entschuldigung." "Ich meine, es ist echt. Aber wenn jemand so zu Ihnen spräche, würden Sie wohl fortlaufen. Wie Sie gestern zur Kirche gingen in dem blaßgrünen, taillierten Kleid mit dem weißseidenen Einsatz und dem Goldbröschchen, da sagten Willi und ich: "So ganz das behütete junge Mädchen aus guter Familie." Sie sagte es lächelnd, nicht spöttisch oder überheblich, aber ich fühlte mich sehr unreif neben ihr. "Es gibt aber Gedichte von Dehmel," fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, "die Sie bestimmt sehr lieben werden, z.B. 'Liegt eine Stadt im Tale ... es ist wunderbar zart. Ich werde Ihnen Dehmels Gedichte geben." "Und was lesen Sie augenblicklich?" Sie streichelte ein wenig den Band in ihrem Schoß. "Das ist Jakobsen; seine Gedichte sollten Sie lesen; aber mit Nils Lyhne;" - wieder ein leises Streicheln, "warten Sie lieber noch." "Entschuldigen Sie, Mile, pardon Frl. Slottke, schließlich bin ich wohl erwachsen." "Sagen Sie ruhig Mile, Elisabethchen, Sie tatens ja schon immer im Eifer des Gefechts. Von Nils Lyhne rate ich Ihnen ab, weil sein Pessimismus etwas Niederziehendes hat. Sehr viel Schönes bricht vor seinem scharfen Verstand zusammen; seine große Vornehmheit kann da nicht ganz entschädigen. Schließlich sind Sie ja noch sehr jung." "Weißseidener Einsatz, Goldbröschchen - ich verstehe ... ". Sie lachte und hakte mich unter. "Wir müssen jetzt gehen, denke ich."

"Wissen Sie Mile, ich fürchte mich vor Pomedien. Nie könnte ich mich mit Frau v.Perbandt unterhalten wie mit Ihnen. Das Haus ist fast fertig. Die Wohnräume schon ganz eingerichtet; gestern waren wir dort. Da gibts keinen Bücherschrank. Ein altes Lexikon, Strachwitz wegen der schlesischen Abstammung, ein Trostbüchlein von Pfarrer Schulz, beim Verlust des kleinen Mädchens Conradine gewidmet." "Sie müssen bei der Beurteilung von Menschen nicht Ihre eigenen Neigungen als Maßstab nehmen. Ich habe eine richtige Freude an Frau v.Perbandt gerade so wie sie eben geschaffen ist, so sauber und frisch und voll gut gelauntem Witz. Ich habe Almamm ein halbes Jahr unterrichtet; ich nannte sie auf gut schlesisch "Frau von Perbändel" und sie mich "Lutschewadel (?)" nach einer der Schwestern in der Novelle von Helene von Böhlau (?), die wir zusammen lasen." "Aber die Böhlau ist doch nichts für ... wie sagten Sie doch?" "Frau von Perbändel; nein, sie mag sie nicht, und sie soll sie auch nicht mögen; sie soll so sein, wie sie eben ist, wie heilsames, trostreiches, frisches Wasser." "Mit Willi kann man doch anders reden." "Lieben Sie Willi sehr?" "Ich glaube ja. Es gibt für Willi doch noch mehr und anderes als nur Pomedien und Langendorf. Hier sind auch Bücherschränke. Willi sagte, ich könne ruhig nehmen, was ich will, ich müßte dann nur von hinten ein Buch in die jeweilige Lücke stellen des Gnädigen wegen." "Moderne Leute werden Sie da nicht finden." "Aber auch keinen Kitsch; die Bücher stammen aus einer ganz bestimmten Periode der Biedermeierzeit; Scott, Dickens, Jean Paul; gerade Jean Paul ist mir sehr anziehend." "Nun auf Wiedersehen! Und was Willi betrifft, möchte ich doch besonders betonen, wie tief dankbar ich bin für ihre Gastfreundschaft, denn an ihr hängt doch hier alles. Nun noch ein guter Rat: Sie ist gern Bienenkönigin." Mile sagte den letzten Satz ganz langsam. "Wie sollte ich sie in ihren Beziehungen stören? Ich bin doch so viel jünger." "Vielleicht gerade darum, aber ich glaube, Sie gehören zu den Menschen die sich auf ihr Gefühl ganz gut verlassen können." "Es tut mir sehr, sehr leid, daß Sie bald abfahren und Dank für die Verse."

Ein Wagen fuhr vor, als wir am Schloß ankamen; Frau von Werner, die schon seit einiger Zeit erwartet wurde mit zwei Töchtern. Frau v.Perbandt hatte nicht allzuviel übrig für Werners. "Jetzt im Sommer kommen sie in ganzen Gebinden nach Langendorf, aber wenn Willi im Winter mal nach Berlin fährt, ist es nie möglich, daß sie bei Werners wohnt." Edeltraut von Werner, die ältere Schwester, war mit einem Bildhauer verlobt. Sie zeigte abends Photos seiner Skulpturen. Ein fast nackter Mann führte ein Pferd am Zügel, auf dem ein fast nacktes Mädchen saß mit einem Strauß Ähren im Arm. Überschrift: "Heimkehr vom Felde." "Molly, sollen unsere Leute jetzt so vom Felde kommen?" fragte Willi ihren Bruder Georg. Er schmunzelte gutmütig vor sich hin, verständnislos und verzeihend. Edeltraut, farblos im Äußern und im Temperament, fuhr nach einigen Tagen mit ihrer Mutter ab, die sich überschwenglich und wortreich bei Willi bedankte. Else, die zweite, blieb noch einige Wochen. Ich war gerne mit ihr zusammen; sie gehörte zu den glücklichen Menschen, die singen können. Sie hatte eine kleine, süße Stimme. Wir waren noch nicht so vertraut miteinander, daß sie mir viel von sich erzählt hätte, aber sie sang mir vor, mir ganz allein auf der Vue, im Kahn, auf moosigen Steinen, die von Unkraut überwachsen im verwilderten Teil des Parks lagen.

In ihrem Singen lernte ich sie kennen, ihre Sehnsucht, ihre Melancholie, ihre plötzlich hervorströmende Heiterkeit. Als Connes Bruder Eduard, die Kinder sagten "Onkel Eke", öfters zu Besuch kam, wurde sie anders, ich sah sie wenig. Aber er konnte doch nicht schuld sein an ihrem plötzlichen Zurückziehen, grübelte ich, man sah sie ja kaum zusammen. Aber sich ja nicht aufdrängen, dachte ich; das hätte den Zauber, die schwingende, aus Liedern geborene Stimmung unserer gemeinsamen Stunden zerstört. Sie hatte jetzt anscheinend wenig Zeit, und doch stand sie früh auf vor Tau und Tag. Wassertropfen in den Locken - die großen Augen feucht schimmernd - ein paar Pilze im Täschchen, im Gürtel einige Stengel der Erika, kam sie hastig atmend zum Frühstück. "Hast Du Eke gesehen?" fragte Willi. "Nein, aber Conne sagte mir eben, er wäre schon lange auf dem Schäferberg. Die Kinder lassen ihn wohl nicht fort." Dann kam Eke, tadellos frisiert, gut angezogen. Er hatte das gleiche Gesicht wie Conne, die gleichen seltsam eckigen Bewegungen. Ich sah Willis Blick auf der Erika haften, die er geistesabwesend zwischen den Fingern drehte. Schließlich Erika fand man jetzt überall. "Danke, gefrühstückt habe ich schon. Ich muß gleich zurück. Ich habe den Kindern versprochen, mit ihnen zu baden." "Dann treibe ich mit Else zur Post." Willi hatte ihre eigene Sprache. Sie sagte "treiben", statt "fahren", "tüffeln" statt "telefonieren", "der Tüffel rast", wenn es viel läutete. Else wurde nicht gefragt, ob sie vielleicht auch lieber baden wollte. Sie fuhr mit Else zur Post und nach Tisch spielte sie endlos Schach mit Cruse. Sein Besuch dauerte eine Woche; zweimal kam er noch zum Wochenende, dann fuhr Else, und er ging ins Manöver. Man hörte damals viel flüstern, eilige Schritte auf dem langen Korridor, den dunklen Treppen, auch wohl leise gesprochene, ungeduldige Worte, aber das war auch zu anderen Zeiten nichts ungewöhnliches in Langendorf, wo es "dämmernde Lauben", Nachtgevögel und die geheimnisvollen Hänge des uralten Wallgrabens gab, die Urnenscherben und Fibeln in sich bargen. Und der Mondschein! Mir ist's, als sei er in jenem verzauberten Spätsommer ein ständiges Requisit der Langendorfer Romantik gewesen. Silberglänzend fielen die Tropfen von den Rudern, weiße Rosen leuchteten wie von innen erhellt, wenn die leidenschaftlich roten längst ihren Schimmer verloren hatten. Auf den Fliesen des Balkons wiederholte sich das Geranke des Pfeifenstrauchs in skurrilen Mustern, und auf dem Steinboden der Halle lagen von den Fenstern gezeichnete strenge Kreuze.

Eines Tages kam auch ein Troubadour, der der Mondscheinsymphonie noch gefehlt hatte, ohne Laute zwar, aber mit Geige - Pankraz, der Eleve. Er hieß Hans Vongehr, aber der schlecht hörende Onkel Fedor, der gemeinhin Onkel Mumm genannt wurde, von Mummelgreis abgeleitet, ein Bruder des Gnädigen, hatte beim Vorstellen "Pankraz" verstanden und redete ihn auch so an, zu allgemeiner Verblüffung wegen des so ganz verschiedenen Klanges, aber gerade das machte die Taufe so indanthren. Pankraz handhabte seine Geige nicht wie der ungarische Meier Hurka Sekat, der manchmal zum Vorspielen ins Schloß gebeten wurde. Da war es wie Zauberei. Hurka ging leicht hin und her, die Hand schien nicht den Bogen zu führen, der Bogen war selbständig und zog in unerhörter Leichtigkeit und Verve die Hand mit sich. Diese Lieder, diese Tänze! Ja, das war ein Spiel! Pankraz legte sich auf Volkslieder, je melancholischer und getragener, desto besser! Er fühlte sich ja, wie er es auch zart andeutungsweise demonstrierte, als "armer Wandergesell", und außerdem waren diese auch leichter in der Technik, was er weniger betonte. Er spielte manchmal etwas stockend aber mit tiefer Hingabe in Haltung und Gesichtsausdruck, etwas zu deutlich an meine Adresse gerichtet. Der Arme! Er war so schwärmerisch veranlagt und nahm seine verschiedenen Gemütszustände sehr wichtig, und weit und breit war außer mir kein junges Mädchen zu finden. Ich war also "Gegenstand" und traf es nicht schlecht mit dieser Würde, die mich zu nichts verpflichtete. Aber, - wie angenehm! - ich fand oft ganze Pakete mit der schönsten Chokolade in meinem Zimmer, und ein von seiner Seite mit Gewalt herbeigeführtes und verlorenes Vielliebchen beglückte mich mit einem silbernen Fingerhut. Ich besaß ihn 25 Jahre, bis er auf einem Damenkaffee verloren ging; ich trauere ihm noch heute nach; er hatte so niedliche kleine Medaillons unten am Rande rund herum, und auf einem war mein Monogramm, winzig klein und doch deutlich. Einmal kam es durch den Namen "Pankraz" zu einem Mißverständnis, das ihm sehr peinlich war, obwohl er selbst gar nichts dafür konnte. Von der Post wurde ein Telegramm durchgesagt: "Komme Tapiau 8 Uhr D-Zug, von Thaer." Herr v.Thaer, ein Bruder von Frau v.Perbandt war ein großes Tier im Generalstab und von allen bewundert und verehrt. Frau v.Perbandt war gerade nicht zu Hause; auf dem Schäferberg konnte er auch gar nicht logieren. So übernahm Willi die Regie. Das schönste Fremdenzimmer wurde gerüstet mit schimmernden Damastbezügen, den letzten Rosen und den ersten Astern. Die Milchsuppe wurde vom Küchenzettel gestrichen und statt dessen Spargelauflauf mit Schinkenröllchen und Mokkacreme angeordnet; der Gnädige stiftete Weintrauben, die er selbst im Gewächshaus schnitt und konzedierte sogar die "Marzipanpferde" zum Abholen. Sie verdankten ihren Namen der Angst des Gnädigen, daß diese besonders schönen und edlen Pferde überanstrengt werden könnten. Darum paßte er auch immer von seinem Fenster aus auf, ob wir nicht zu schnell fuhren, aber wenn wir den langen Hof hinter uns hatten und um die Ecke des Hoftors bogen, sagte Willi: "Jetzt können wir treiben; sie sind wirklich nicht aus Marzipan. Los!" - Als nun die Tafel geschmückt, die Halle erleuchtet war, und alles in Erwartung des geehrten Gastes in der Säulenhalle vor dem Schloß stand, der Wagen vorfuhr, und der bei solchen Gelegenheiten als Diener frisierte Gärtner den Schlag öffnete, da stieg ein einziger Fahrgast aus dem eleganten Coupé: Pankraz als ridiculus mus! Er schien verdutzt über den feierlichen Anstrich und blinzelte. Willi fuhr ihn an: "Wie kam es, daß Sie mitfuhren? Wo ist Herr von Thaer?!" "Ja, der Kutscher sagte auch so etwas Wirres," stotterte der zur Rede gestellte. "Ich spreche nicht 'so etwas' und schon gar nicht 'etwas Wirres'", erzürnte sich Willi, "ich will wissen, warum Sie kommen und nicht Herr v.Thaer?" "Ich verstehe das wirklich nicht," im Gefühl seiner Unschuld gewann der durch Willis Vorwürfe verblüffte Reisende seine Haltung wieder, "ich habe telegraphiert!" "Telegraphiert, was?" "Komme Tapiau 8 Uhr abends, Vongehr." "Vongehr," rief Willi so entrüstet, als hätte sich ein Hochstapler einen falschen Namen erschlichen, "Vongehr! unterschreiben Sie doch Pankraz, wie Sie heißen." Wie eine erzürnte Königin ging sie ins Haus. Wir anderen begrüßten Pankraz ganz besonders freundlich und herzlich; verdankten wir ihm doch Spargelauflauf und Mokkacreme! Da mußten wir uns dann schließlich nach Abendbrot noch einen längeren Geigenvortrag gefallen lassen.

Ein Kollege von Pankraz war Herr Jander, der Volontär. Er gab nur ein kurzes Gastspiel, denn als Volontär fühlte er sich zu keiner Arbeit verpflichtet, und das war nicht nach dem Sinn des Gnädigen. "Was soll ich Ihren Eltern schreiben?" stellte er ihn zur Rede, "Sie arbeiten nichts und lernen nichts, was denken Sie eigentlich?" "Gar nichts, Herr v.Perbandt," war die in vorbildlich strammer Haltung gegebene Antwort. Man glaubte ihm gern, daß er des Denkens entraten konnte, wenn man den großen Menschen mit dem hübschen so ganz inhaltslosen Gesicht musterte. Sein Vater hatte eine Seifen- und Parfümfabrik. Man merkte es, daß er mit diesen Artikeln reich versehen war. "Erst kommt der Odor, und dann der Herr Jander" sagte der Viehfütterer treffend. Die Eltern kauften dem einzigen Sohn ein prächtiges Gut. Wir hofften alle zu seinem Besten, daß sie ihm auch gleich einen prächtigen Inspektor mitgekauft hätten.

Das Verhältnis von Herrschaft und Personal war patriarchalisch. Man sieht es auf einem Photo, das ich noch aus jener Zeit habe. Der Gnädige auf seinen Stock gestützt, den er selten benutzte. Onkel Karl, Karlchen der Maler, der jüngste der drei alten Brüder, der die längste Zeit seines Lebens in Wild West zugebracht hatte, wo man erst mal rausschießt, wenn einer an der Blockhütte klopft und dann erst fragt: "Wer da?" Dort hatte er vieltausendjährige Mammutbäume gemalt, während seine drei Kinder in Langendorf erzogen wurden. Auf dem Photo ist noch ein Gast, dann Editha, der Junker, der Gärtner Kerwien, Pankraz und Fritze. Fritze natürlich halb kniend nicht in devoter, doch ehrerbietiger Haltung. Einmal wurden am selben Tag drei Prämien für langjährige Dienste im Haushalt verliehen: Fritze und die Nähkäthe 25 Jahre, das Hühnermädchen Minke 50 Jahre. Minke war als "lediges Kind" von der Frau des Gnädigen aufgenommen und in Langendorf erzogen worden. Sie war Analphabetin und nie über Langendorf hinausgekommen, nicht einmal nach Tapiau zum Zahnarzt. Sie sorgte musterhaft für das Geflügel, war immer froh und dankbar. Die Prämie von 50 M hatte Editha ihr in Markstücken zu einer Schürze und warmen Schuhen hingelegt, damit sie recht viel einzusammeln hatte. Sie fegte aber alles in ihre Schürze und gab es Editha: "Das ist nichts für mich, Fräulein Dithchen weiß schon, was ich brauche." Sie war sehr bescheiden, aber einmal hat sie einen stolzen Kadetten sehr gekränkt, als sie ausrief: "Nee, was fürn kleiner Soldat!"

Die dritte der drei Prämierten, die Nähkäthe hatte ein hübsches aber scharfes Gesicht, und eine scharfe Zunge. Sie steckte voll Geister- und Gespenstergeschichten. "Wissen Fräulein Lemke nicht, daß Frau Mackentanz eine Nixe ist?" "Käthe!" "Die goldblonden Haare, die grünen Augen." "Frau Mackentanz hat sehr schöne Haare und wundervolle Augen." "Aber die Kinderfrau hat mir erzählt, daß ihr ganzer Körper von kleinen, silbernen Schüppchen bedeckt ist, wenn sie in der Badewanne liegt."

In einer Sache waren sich aber alle Angestellten einig, auch der Inspektor, der Kutscher, die Instleute: in der Verehrung für den Gnädigen. Als wir einmal spät nach Hause kamen, stürzte uns Käthe aufgeregt entgegen, einer Henne mit gesträubten Federn vergleichbar. "Still, still, der Gnädjerchen schuscht schon!"

Ende September sollte das Haus in Pomedien bezugsfertig sein, und nun war es schon Anfang November. Die Rosen waren verblüht, aber auch der Spätherbst war noch sonnig und milde, so fanden wir an geschützten Stellen die als letzte jetzt so kostbaren gelb-rosa und rosa-gelben Knospen, die in der Zimmerwärme aufblühten und zart dufteten; die äußersten Blütenblätter durch kühle Nächte an den Rändern verletzt, leicht bräunlich als Mahnung baldigen Welkens. Die Blätter auf den Wegen raschelten köstlich, wenn man zur Vue ging um am Hang nach Nüssen zu suchen.

Es war aber nichts zu finden. "Früher trugen sie überreich," sagte Editha, "aber seit dem Herbst als Willi sich entlobte, ruht auf ihnen anscheinend Trencks Fluch," fügte sie leise lächelnd hinzu. Käthe hatte mir erzählt, daß ihr der Kutscher von Schakaulack anvertraut hatte, daß der Graf nach der Entlobung vor Verzweiflung immer mit dem Kopf an die Wand gerannt wäre und sterben wollte. Als ich diese romantische Geschichte zu Herrn v.Perbandt erwähnte, meinte er trocken: "Dann hat er sich bestimmt immer die Hand vorgehalten." Er hielt wenig vom Heldentum seines Freundes Viktor, und seine landwirtschaftlichen Kenntnisse verachtete er geradezu.

Mitte November setzte Regen ein, ein melancholischer Landregen. Die Kartoffelernte war bunt und lustig gewesen. Jetzt wurden die Rüben eingebracht. Es sah trübselig aus, wenn Barlachsche Gestalten in Lehm und Erde buddelten, selbst wie aus Erde und Lehm erwachsen. Die Kinder konnten nun nicht mehr im Park und am Pregel spielen, sie blieben nach den Stunden noch gerne in meinem Zimmer. Sie waren alle so gut zu leiden, ohne jeden Hang zu bösen Streichen, die Jungens begeistert für die Jagd, für Äcker, Wlad und Wiesen mit Sinn für Humor. Sie waren auch als kleine Jungens adlig und ritterlich wie ihre Vorfahren und hätten genau wie diese gern Tinte und Feder den Schreibern überlassen. Sie waren unendlich gutherzig und besonders Almann leicht gerührt.

Als das Jubiläum der geliebten Kinderfrau, der Frau Hermann, "Meine" genannt, gefeiert wurde, brach Almann in Tränen aus. Hansel war sehr zärtlich; sie umarmte mich liebevoll, so bald sie mich sah. Ich hielt mich instinktiv ein wenig zurück, denn ich fühlte unbestimmt, daß Frau v.Perbandt wie viele Mütter, es nicht gerne sah, wenn ihre Kinder ihr Herz zu sehr an Fremde hängten. "Ich habe Dich wahnsinnig geliebt!" sagte Hansel, als sie mich in Pyrmont besuchte.

Jetzt kamen keine Gäste mehr nach Langendorf. Nach Abendbrot ergriff Pankraz eine Lampe und ging mit dem tiefen Ernst und der Wichtigkeit, die er bei all seinen Verrichtungen zur Schau trug, in ein kleines Nebenzimmer, in einer Reihe gefolgt vom Gnädigen, Onkel Mumm und Onkel Karlchen. Willi und ich nannten es die Abendprozession. Dann stieg ein gemütlicher Skat. Manchmal spielten die Hausgenossen ohne den Schäferberg zusammen, und der Gnädige stiftete Preise von einer etwas mehlig schmeckenden Schokolade. "Die ist doch für Kinder allemal gut genug", sagte er, wenn Willi eine etwas feinere vorschlug. Spielen wollte der alte Herr abends immer, und wenn es auch nur Halma war, aber er verlor nicht gern; man nahm Rücksicht darauf. Wenn er zweimal hintereinander gewonnen hatte, war er guter Laune und gönnte auch dem Gegner einen Sieg, ja baute ihm goldene Brücken dazu, aber zuerst mußte unbedingt er der Sieger sein.

Langendorf, der "Faule See"
Langendorf, der "Faule See"

Ich war viel in Willis Zimmer. Der Blick weit über die Pregelwiesen bis Gr. Lindenau war wunderschön, im Kamin brannte das Feuer. Willi war nicht so völlig ausgefüllt und in sich abgeschlossen wie alle die anderen hier; sie hatte Wünsche und Sehnsüchte, und sie hatte so schöne Hände, edel geformt, groß und kräftig, die konnten wohl die Zügel auch wilder Pferde führen. Ich sagte ihr meine Lieblingsgedichte aus Miles Büchern und ließ mir von Spanien erzählen, wo sie die Gründung eines Fremdenheims versucht hatte, aber es endete mit dem Verlust von einigen tausend Mark, und nun hatte der Gnädige keine Lust mehr zu neuen Experimenten. Davon sprach Willi nicht, aber sie erzählte von der herrlichen Gegend, den unvergleichlichen Kavalieren. Ich war ganz verzweifelt, wenn ich an den endgültigen Abschied dachte. "Lächerlich ist das," sagte ich zu mir selbst, "Pomedien ist von Langendorf eine Meile entfernt," aber das half nichts, mein tägliches Zusammensein mit Willi mußte dann ja aufhören. Ich konnte mich nicht trennen, es war zuletzt eine übertrieben-schwärmerische Neigung. Da sagte Editha eines Tages, als ich von Ferienplänen mit meinen Freundinnen sprach: "Wenn Sie nach Kopenhagen fahren, nehmen Sie doch Willi mit, sie reist so gerne." Ich war vollständig erstarrt bei der Vorstellung. Das paßte doch alles nicht zusammen. Willi mit meinen Freundinnen! Willi auch nur in der Stadt! Nein, sie gehörte nur, nur nach Langendorf! Und da fühlte ich plötzlich, daß diese meine Liebe zu ihr, im letzten Grunde die Liebe zu Langendorf war!

 

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Pyrmont, im Dezember 2006

Liebe Friederike,
ich freue mich, dass Du bis hier her gekommen bist.
Viele der Unterlagen meiner Großmutter, Eurer "Lemperchen", sind weit verstreut, und es wird mir nicht mehr möglich sein, sie alle zu sichten.
Was ich aber habe, das sind ihre gesamten schriftlichen "Erinnerungen". Nach ihrem und dem Tode ihrer Tochter Urte, wurde der Haushalt komplett aufgelöst und alles auf Urtes Kinder verteilt. Meine Mutter bekam die handschriftlichen Unterlagen für einige Tage zum Lesen, und es war mein Glück, dass sie mir davon erzählte.
Ich fuhr damals sofort von Göttingen nach Pyrmont und nahm alles, was mir wichtig erschien aus dem fast leeren Haus heraus um es, wieder in Göttigen zu kopieren, Fotos, u.a., reproduzieren zu lassen. Es war ein Aufwand mehrer Nächte nötig.
Aber es hat sich gelohnt.

Es gibt noch einen Bericht "Pomedien", den ich in den nächsten Tagen abschreiben werde, und 'irgendwo', in meiner riesengroßen Unordnung, ein paar wenige Fotos, die meine Großmutter Elisabeth aufgehoben hatte, darunter auch das später, im Artikel "Pomedien" erwähnte "In meinem Zimmer".

Worüber ich noch tüftele, das ist die Frage, wie es zu der engen Beziehung zwischen Barbara (Mau) und ihr gekommen ist, denn Mau wurde ja in der Zeit, die hier beschrieben wird gerade erst geboren, war also eigentlich noch zu klein, um aus dieser Bekanntschaft die Grundlage für eine derart enge, lebenslange Beziehung aufzubauen.

Ich muss es noch einmal betonen: Die Beziehung zwischen den beiden Frauen war so eng, dass sie uns Enkel in ihren Bann zog. Nie werde ich Maus dunkle Augen vergessen.
Sie gehört für mich zu den Menschen, die in meiner "Erinnerungs-Kategorie" 'einfach nur gut' oder 'ausschließlich lieb' liegen und liegen werden, so lange ich leben werde.
Auch ohne die Augen zu schließen, höre ich Maus Stimme, sehe ihre Hände. Ich bin selbst erstaunt darüber, weil ich diese intensive Form der Erinnerung sonst nicht pflege.

Die Frage, warum ich dies alles tue, ist schnell beantwortet: Ich hole Menschen, die mir etwas bedeuteten aus dem Vergessen heraus.
Darüber hinaus sind Teile dieser Langendorf-Artikel sehr genaue Schilderungen einer vergangenen Zeit und einer verlorenen Welt.
Ich denke, dass es sich lohnt.

Herzl. Grüße,
Jost

PS Solltest Du Bilder haben, die die Artikel illustrieren könnten, so schicke sie mir.
Du bekommst sie zurück, nachdem ich sie kopiert habe.
Das Schicken kann auch per EMail erfolgen, selbstverständlich. ]

 

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2006
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Letzte Aktualisierung: 17.09.2007