Donnerstag 915 – 1000
Roßbach.
Latein. Die Germania des Tacitus.
„Wir müssen uns
zunächst mit den verschiedenen Ausgaben der 'Germania'
beschäftigen. Die Ausgabe groß A stimmt mit klein a wenig
überein, während die Ausgaben groß B und klein b ...“
Ich musste dabei an den
Regimentsbefehl im Simplicissimus
denken:
„An den geraden Sonntagen versammeln sich die
ungeraden Regimenter vor der Kirche hinter der Kirche und nach der
Kirche vor der Kirche. An den ungeraden Sonntagen usw.“
Noch mehrere Donnerstage
war die Rede von diesen Ausgaben, und mich beschlich eine tödliche
Langeweile.
Donnerstag 10.15 – 11.00
Hahn. Erdkunde. Die
Alpen (Publikum)
„Unser Inter - esse wendet sich für die nächsten Vorlesungen den Central Alpen
zu. Vor den Pfingsttagen könnte ich es einrichten, noch ein
Kolleg zum Abschluss zu halten.“
Allgemeines Scharren, das
ich als schuljungenmäßig und sehr unhöflich empfand.
-
„So wollen wir“ fuhr Hahn fort „- nicht ohne Bedauern unsere Vorlesung
schließen.“
Allgemeines Trampeln.
Freitag Nachmittag
Baumgart. Der
deutsche Roman.
Auf den Bänken, die
sich in nichts von gewöhnlichen Schulbänken unterschieden,
las man eingeritzte Inschriften: „Baumgart, dormiturante
salutant!“ und „Wer nicht bei Baumgart schlafen kann, dem tut das
Morphium
auch nichts an.
Der kleine Mann auf dem
Katheder legte schnell und heftig los: „Was hat uns der moderne Roman
geschenkt? 'Soll und Haben' gewiss, Freitag, welcher das deutsche
Volk bei der Arbeit sucht, eine gute, fleißige Arbeit –
denken wir an Goethe. Welche Meisterwerke gab er uns mit seinen
Romanen!“ -
Die Verse auf der Bank
stimmten. Plötzlich schob sich etwas unter meinen Arm. Ich hatte
gedöst und hörte plötzlich wieder Baumgarts Stimme, die sich sehr alut in Entrüstung überschlug:
„Sumpf, nichts als Sumpf!“
Ich merkte jetzt erst,
dass es eine Illustrierte war, die mir ein Student zugesteckt hatte. „Gegen die Langeweile“, flüsterte er. Ich lächelte,
„Dank, und was redet er immer von Sumpf?“ „Das sind
die Romane seit Goethe.“ „Oh, und was lesen Sie da?“
Ich zeigte auf ein dickes Buch mit altmodischem, löschblattähnlichem
Papier und verschnörkelten Buchstaben auf der Titelseite. „Arno
Holz, Sauff-, Freß- und Venuslieder. Aber das kann ich Ihnen
wirklich nicht zeigen.“ „Sumpf?“ „Nein, Kunst
und höchst originell.“ -
Zu Baumgart würde
ich bestimmt nicht mehr gehen. Er hatte ja alle meine Lieblinge
beleidigt. „Peter Camenzind“, „Jettchen Gebert“, „Jörn Uhl“,
die „Buddenbrocks, Niedergang einer Familie“,
ja die besonders; ich liebte sie mit Schmerzen, für jede ihrer
Gestalten fand ich ein Modell in der eigenen Familie, nur für
Gerda,
die nervös Kalte nicht. Ach, und Tonie Kröger!
-
Im Gespräch mit Rose geriet ich aus Versehen in ein französisches Kolleg. Der
Professor hatte ein scharfes Profil und sein Name fing wohl mit C
an. Er sagte, jemand möchte ein altfranzösisches Verb konjugieren. Eine Studentin meldete sich und machte alles gut;
bei der nächsten Frage meldete sich Rose, und obwohl sie
alles wusste, errötete sie genau so verlegen, zart und
sympathisch wie seinerzeit in der Schule. Als sich beim dritten Mal
wieder eine der wenigen Studentinnen meldete, schlug der Professor
vor, dass sich nun auch einmal einer der Herren beteiligen möchte.
Ich naschte herum und
hatte an nichts ein tieferes Inter – esse [siehe oben], wie Hahn sagen würde. Wir hatten im Oberbau ein bischen viel
geschwärmt, und ich hatte den Wert der wissenschaftlichen
Heimarbeit, den Wert des Steinchens für das ganze Mosaik noch
nicht erfasst. Ich wollte von der Philologie überhaupt nichts mehr wissen, National Ökonomie
studieren und an eine Zeitung gehen.
Eine staatliche Anstellung
wollte ich in keinem Fall, schon der Sedanfeiern wegen. Meine unvorsichtigerweise in größerem Kreise
geäußerte Auffassung, dass es uns als Besiegte kränken
würde, wenn die Feinde noch jahrelang ihren Sieg mit großem
Gepränge feiern sollten, trug mir allerlei Missachtung ein. Noch
nach Jahren sagte Tante Greti beim Beginn des
National-Sozialismus, den ich von Anfang an als Folge meiner ganzen
Entwicklung ablehnen musste: „Du hattest ja nie ein
Vaterland.“ „Ich liebe es vielleicht mehr als Du“,
sagte ich so freundlich, dass sie mir meine Worte nicht verübelte
und nur ihre national-preußische Anschauung als
selbstverständlich einzig richtige und unangreifbare hinstellte
nach der Melodie: Exege monumentaere perennius.
Wie vereinte sie das nur mit ihrem streng positiven Christentum!
Eine reine Freude waren
die russischen Stunden. Es tut mir nur leid, dass sie bei der Heirat
aufhören mussten. Das Problem einer Umstellung des berufstätigen
Mädchens ob es sich um die völlige oder teilweise Aufgabe
ihrer bisherigen Tätigkeit handelt, ob sie sie ganz beibehalten
muss, birgt in jedem Fall Konflikte. Auch die Frauen, die ihren Beruf
gern mit dem Haushalt vertauschen, entbehren die pekuniäre Selbständigkeit. Es bleibt oft „ein Rest zu tragen
peinlich“, wenn es sich nicht um gütige und geniale
Partner handelt. Mir wurde es schwer, einfach abzubrechen, aber die
Energie meiner Schwester Marie hatte ich auch nicht, die noch
mit 44 ihr Staatsexamen und ihren Dr. machte und ihren Kindern
dadurch das Studium ermöglichte und eine kleine Aussteuer
verschaffte.
Als ich in das Zimmer
ging, in dem das russische Kolleg sein sollte, war dort niemand und
ich glaubte, ich hätte mich geirrt. Aber pünktlich um ¼
nach 3 kam ein großer, blonder Herr herein, schwang sich nach
kurzem Gruß aufs Katheder und begann: „Das Idiom, mit dem
wir uns in diesem Semester beschäftigen werden, gehört zum
Zweig der slawischen Sprachen – u.s.f.“
Als ich bei seinen Übersetzungen lateinischer Citate bescheiden erwähnte, ich hätte Latein gelernt, fragte er:
„Sind Sie Hörerin?“ „Nein, matrikuliert.“ „Humanistisch?“ „Nein, realgymnasial.“ „Schade, wir haben im Russischen auch griechische Wurzeln.“
Das lässt sich ja im Graecum nachholen.“ Er stieg mit gnädigem Ausdruck vom Katheder,
setzte sich auf den Tisch vor meiner Bank und überhäufte
mich mit Angaben und Aufgaben. „Hat sich außer mir
niemand gemeldet? Lesen Sie denn überhaupt?“ fragte ich am Schluss, ein wenig
benommen von all dem Neuen, das ich behalten sollte. „Natürlich“ sagte er.
Nun hatte ich ein ganzes
Semester lang für 8M die allerbesten Privatstunden. Da ich nichts anderes zu tun hatte,
blieb mir völlig Zeit zum Lernen und wir kamen mit
Riesenschritten vorwärts. Wenn aus irgend einem Grund die
Vorlesungen an der Uni ausfielen, gab mir Rust eine
Privatstunde in seiner Wohnung. Zuletzt hatte ich immer 3mal in der
Woche Russisch. Als ich ihm im Herbst meine Verlobung mitteilte,
sagte er, er könne mir nicht von Herzen gratulieren; er wäre
nicht für das Frauenstudium, aber mir nähme er das Heiraten
übel.
Das ist nun aber auch das
einzige kleine Lorbeerblättchen,
das ich von meinem Studium nach Hause brachte.
Dieser Sommer war eine
freundliche Zeit. Mieze Heumann hatte mir 1000M geschenkt, da
durch ihre schnelle Heirat mit dem Rittergutsbesitzer
Kroeck, aus unserem geplanten gemeinsamen Aufenthalt in
München nichts werden konnte. Der gute Onkel Paul, der
sich nach dem Zusammenbruch wieder empor gearbeitet hatte, gab mir
20M im Monat. Ich konnte ihm wenigstens die Freude machen, öfters
einen ganzen Sonntag mit ihm zu verbringen. Auch in der Abiturzeit
hatte ich mich am Sonntag, gerade wenn es am kältesten und
dunkelsten war, um 8 Uhr auf der Oberteichterrasse mit ihm getroffen
und war bis ½ 10 Uhr, wenn er in die Kirche ging, gemütlich
mit ihm zusammen. Im Sommer trafen wir uns schon um 6, manchmal auch
5 Uhr und fuhren an die See.
Er hatte einen guten
Freund, von dem schon die Mutter erzählt hatte, dass er ein
ausgesprochener Weiberfeind wäre und niemals mit einer Frau
zusammen sein wollte. Onkel Paul hatte ihn zur Teilnahme
unserer Fahrten aufgefordert aber nichts von mir erwähnt. Als
wir in der Bahn saßen, wurde es ihm erst klar, dass ich
mitfuhr, aber nun konnte er ja nicht mehr zurück. Von da an
fuhren wir manchmal zusammen. Bergmann hatte wohl in der
Jugend eine ganz schwere Enttäuschung erfahren, die der
Schlüssel zu der Ablehnung der gesamten Weiblichkeit war – nur eine alte Aufwartefrau hatte Zugang zu seiner Wohnung – denn er war im Wesen von
ausgesuchter, altmodischer Höflichkeit. Beide alten Junggesellen
luden mich zu allen Genüssen ein; es war wirklich eine reizende
Stimmung. Als ich von Königsberg fortkam, wollte ich Ottilie
so gern meine Kavaliere vermachen, aber sie hatte nicht den rechten Sinn dafür.
Ich war mit Georg
und Lissa mit nach Ludwigsort gegangen, wo er in einem barackenähnlichen Sommerhäuschen eine Sommerbleibe – von „Wohnung“
konnte man nicht reden – 1 Zimmer, gedeckte Veranda und Küche
gemietet hatte.
Ich schlief in der nach
vorn offenen Veranda. Georg zog dort Feuerbohnen in Kästen
und verfolgte ihr Wachstum mit gerade kindlichem Interesse. Auguste
war nach Georgs Heirat noch geblieben. „Aber nur bis zum
Examen“, hatte sie gesagt, denn die junge Frau war ihr als
Postschaffnerstochter nicht herrschaftlich genug. Typisch für
ostpreußisches Personal, das mehr als im Westen und Süden einen Sinn für gesellschaftliche Rangordnung hat. Ihren Vorsatz:
„Ich sage nicht 'gnädige Frau', ich sage 'Madame'“,
konnte ihre Tante Johanna, wie diese mir erzählte, ihr
nur schwer ausreden. Jetzt waren kleine Reibereien an der
Tagesordnung und machten das häusliche Leben oft ungemütlich,
besonders da Lissa genau so wenig wie ich viel von einer
richtigen Haushaltsführung verstand.
Wir wussten uns beide
nicht recht zu helfen, wenn wir die Lebensmittel aus Königsberg
mitbringen mussten und nicht bloß um die Ecke zum Kaufmann und
Fleischer zu laufen brauchten. Die Brüder – Hermann war auch oft da – lachten über unsere Gemüsesuppe, in
die ich die Kohlrabi, sie waren zufällig besonders groß –
unzerschnitten hinein getan und ihnen dadurch innen einen festen Kern
bewahrt hatte, während die Kartoffeln und Mohrrüben
breiartig dick verkocht waren.
Außer an einem Tag,
als der Hagel in dicken Körnern mehrere cm hoch lag – eine
richtige Winterlandschaft – war ein köstliches
Frühsommerwetter. Ich stand zeitig auf und ging durch die
kieferduftenden Gehölze zum Morgenbad ans Haff.
Wenn ich zurückkam,
war eiu Kaffeetisch hübsch gedeckt, was Lissa so gut
verstand.
Hermann spielte
Diabolo. Georg erzählte, dass er ihn manchmal am
Vormittag im Geschäft anläutete um ihm über seine Fortschritte beim Diabolo zu berichten. Er
lachte darüber, aber ich erschrak. Oh Gott, er würde doch
nicht werden wie Christian Buddenbrock?
Wenn die Zeitung kam, las
Georg die neueste Fortsetzung von Georg Hermanns „Kubinke“.
Wir mussten dabei viel lachen; die ganze Stimmung war überhaupt
heiter, harmonisch, leichtsinnig und natürlich. Und die
entzückenden Pfeifkonzerte der Brüder, die sich aber leider
wie Karnarienvögel selten auf Kommando produzierten und Lissas einschmeichelnde Stimme. Es war auch hübsch, wenn sie alle drei
zusammen sangen, aber es kam nur selten dazu, weil sie die Texte
nicht genügend konnten, und mir war es langweilig, immer wieder
das selbe zu soufflieren.
Manchmal fuhr ich mit
Georg gleich mit in die Stadt zur Uni oder ich blieb zu Hause,
um Lissa, die ihr erstes Kindchen erwartete beizustehen.
Der Buchhändler Teichert wohnte neben uns; wenn ich ihn traf, sprach er
manchmal von den alten Zeiten. Einmal sagte er fast wie zu sich
selbst: „Als ich mit Wyneken nach der Beerdigung Ihres
Vaters zurück ging, da sagten wir beide: Der Georg Friedrich ist zu früh gestorben; zu früh für die Stadt und zu
früh für seine Kinder.“ Dann legte sich mir
bedrückend ein Vergleich aufs Herz, der Vergleich zwischen
unserer Existenz und dem soliden, ordentlichen, mit einem gewissen
Luxus ausgestatteten Haus am Lizent und dem Leben in dieser Baracke,
in der man saß wie ein Vogel auf dem Zweig, denn die
Königsberger Wohnung war gekündigt.
Aber wenn ich dazwischen
einmal zu Bocks ins Schülerheim fuhr, wo alles philiströs
genau geregelt war, und Miezel, die für sich allein nie
hatte sorgen müssen, weil sie ja bald heiratete, von unserem
Leben bei Georg nicht ganz zu Unrecht von „der Bohème“
sprach, fröstelte ich vor all der Tugend und Philisterei und dem
taktlosen Reden über Jankow außerdem. Die gute Großmutter wollte nichts
Unerfreuliches hören und erzählte lieber Geschichten von
den wirklich lieben Enkelchen Marion
und Hildegard.
Vieles ist mir in der
Rückschau nicht recht begreiflich. Ich war immer vergnügt,
aber warum stürzte ich mich nicht mit Jubel und strahlendem
Schwung in das Leben, das nun einmal der Jugend gehört!
Vielleicht war ein Hauptgrund die so wenig herzhaft gelenkte, so
sträflich verzärtelte Kindheit, die mir anhing, und mir
auch den Schwung zu einer im Augenblick notwendigen
Rücksichtslosigkeit nahm. So wagte ich nie flott und unbekümmert
über meine Ferien zu entscheiden, wenn ich nicht Ottilie vorher irgendwie entschädigt hatte.
So war es auch jetzt
Pfingsten 1910. Sie hatte ihre Hauslehrerstelle – warum bloß
wieder – aufgegeben und unterrichtete an einer kleinen
Privatschule auf Rügen und lud mich zu Pfingsten ein. Es war
eine schöne Fahrt bis Rügen, natürlich per
Frachtdampfer, zufällig zusammen mit dem Sohn unseres
Geschichtslehrers Fischer, der sich auf einer Reise über
das missglückte Referendarsexamen trösten wollte und der mir als alter, ein wenig verbummelter
Student später beim Nachholen der Testate behilflich war, die ich gerade bei den wichtigsten Fächern
versäumt hatte. Der dritte Reisende war der junge, hübsche Unterberger, 1. Semester,
den ich von meiner Kabine aus den Kapitän fragen hörte:
„Und wer fährt noch mit? Eine Studentin? Wird
wahrscheinlich schaurig sein.“ Abends sangen mir die beiden
ihre Studentenlieder vor. „Gold und Silber lieb ich sehr -“
Es passte gut zu Mondenschein und schaukelndem Sternenschimmer auf
den lichten Wellen. Ich weiß nicht mehr, wo wir anlegten. Fischer fuhr mit dem Dampfer weiter. Von Unterberger verabschiedete ich mich auch und ließ die Abfahrtszeit meines
Zuges im Dunkeln. Ich genierte
mich ein wenig der 4. Klasse wegen. Damals waren die Auffassungen ja noch so anders als jetzt. Als
ich zum ersten Mal, um zu sparen 4. Klasse fuhr, hatte ich das
Gefühl, mich in ein gefährliches Abenteuer zu stürzen.
Ihm ging es im Übrigen ebenso, und wir lachten herzlich, als wir
uns in einem Wagen „Für Reisende mit Traglasten“ wieder fanden. Es wurde Harmonika gespielt und getanzt. Prima!
In Bergen holte mich Tiny glückselig strahlend ab. Sie hatte alles sehr schön und
bequem für mich eingerichtet, mir ihr eigenes, sonniges Zimmer
gegeben und sich in einer Mansarde einlogiert. Vor allem hatte sie einen großartigen Plan für
eine Wanderung ausgearbeitet. Eine Woche lang und um die Insel herum.
So gingen wir dahin immer in Sonne, durch leichte Wälder mit
Abhängen von Himmelsschlüsselchen golddurchstickt, an Wiesen vorbei frisch grün als seien sie
lackiert und die See, die See! Stubbenkammer wie es im Buch steht, grasgrün, schlohweiß und dunkelblau;
der Hertha-See, wie er nicht im Buch steht – freundlich
lächelnd, sonnig, Vogelgezwitscher im jungen Laub der Büsche
am Rande. Dagegen kam die Opfersteine gar nicht an, wie sie da grau
und ganz gemütlich herumlagen. Man weiß ja auch nicht
genau, ob es wirklich Opfersteine waren.
Kinder, die dauernd die
Sage von Störtebecker erzählen wollten, wurden mit kleinen Gaben glücklich
gemacht. Das gehört eben zum Fremdenverkehr. Noch lange Zeit
hatte ich gleich der „alten Muhme“ von Anastasius Grün ein gepresstes Buchenblatt in einem „alten
Büchlein“. Man konnte aber in meinem Fall nicht sagen:
„Sie weinte so oft sie's erblickt“; nein, ich genoss die
Erinnerung und sagte mir mit Storm:
„Ein
grünes Blatt aus Waldestagen
Das nahm ich so im Wandern
mit,
Damit es einst mir möge sagen,
Wie laut die
Nachtigall geschlagen,
Wie grün der Wald, den ich
durchschritt.“
Dann folgten noch ein paar
ruhige, gemütliche Tage bei Tinys netten Wirtsleuten,
leider doch entwertet durch den nahen Abschied. „Auch ein
Abschied kann schön sein,“ sagte ich, innerlich leise
verzweifelnd, „ich bin Dir ja so dankbar, und der Abschied nach
einer so schönen, reichen Zeit, der macht doch das Ganze erst
zum unverlierbaren Besitz. Und wenn Du erst angestellt bist, wenn Du
eine eigene, kleine Häuslichkeit hast ...“ „Ich
danke“, unterbrach sie mich etwas rauh, „allein in dieser
Häuslichkeit, wie Du es nennst, einer Häuslichkeit, die
doch nur eine Zelle ist. Andere haben Kinder, einen Mann. Und was ist
schon eine Lehrerin! Es ist charakteristisch, wenn Zola ein Mädchen
beschreibt: „laide, humble, une institutrice peut-être!“ „Aber Du unterrichtest doch gerne und mit Erfolg; es gefiel mir
gestern in Deiner Klause“. „Sicher, ich unterrichte sehr
gern, aber es sind doch immer fremde Kinder. Und ich habe mir unser
Leben so anders gedacht.
Ich meinte, wir beide
würden uns dann ebenso treffen. Wie die Mutter und Tante
Ottilie, die in der stillen Schlossstraße nach ihren
Einkäufen auf und ab gingen, während das Coupé an
der Ecke wartete.
Ich meinte, ich würde auch einmal in einem
Coupé
nach Rothenstein fahren.“
„Aber Rothenstein war doch so schrecklich
langweilig, mit den verschlossenen Bücherschränken und den
immer geharkten Wegen!“
„Ach nein, das war so schön,
so schön! Das Kaminzimmer, der Wintergarten und gerade die
sauberen Wege. Und dann möchte ich auch nicht alles für
mich allein erleben, ich möchte über Gemeinsames sprechen
können.“
„Das können wir
doch nun über die herrliche Zeit in Rügen.“
„Ja, eine einmalige
Sache. Und gestern der Brief von Jankow. Den ganzen Tag warst
Du nicht wohl; nun weiß man ja, wie er auf Dich wirkt.“
Sie hatte es als Schwerz
gesagt, doch im Unterton schwang doch etwas von der alten Eifersucht
mit. Es stimmte schon, mir war einen Tag nicht gut gewesen, aber da
war der Brief nun wirklich nicht schuld. Unruhe brachte er mir
freilich wie immer; er musste Schluss machen, ich
hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu.
„Warum
höre ich nichts mehr von Dir, carissima? Wie ist's auf der
Universität? Du musst doch Bände zu erzählen haben!“
Sein Wunsch war ihm nun erfüllt, er war den ihm so
unsympathischen „Oberlehrer“ los, war der jüngste
hauptamtliche Kreisschulinspektor von Preußen, dem eine große
Karriere prophezeit wurde. Er war nach Neidenburg
gekommen, einem kleinen Nest mit ein paar tausend Einwohnern, der
Bezirk, weil zweisprachig,
nicht ganz leicht zu verwalten, aber klein, so dass viel Zeit blieb
für seinen eigentlichen Beruf: die Jagd.
Er
schrieb auch von einem „kapitalen Sechser“, aber sein
alter Feind, die Langeweile, verfolgte ihn auch dort hin. „Wenn
ich Dich doch hier hätte! Und da wollen uns die Philosophen weis
machen, dass der Raum an sich eine Illusion
ist?
Wollen wir uns treffen?“
Oh,
nein, das kam ganz und gar nicht in Frage. Ich schrieb es noch
von Rügens aus, - aber mit geheimem inneren Zorn auf mich
selbst, stellte ich fest, dass die Absage zu freundlich formuliert
war, doch ich hatte immerhin ein Treffen eindeutig abgelehnt, mehr
konnte kein Sterblicher und auch der Himmlischen keiner verlangen.
Da
am letzten Abend Tiny durch eine Konferenz verhindert war, machte ich allein einen Abschiedsspaziergang. Es war
dämmerig – und – für Rügen ein seltener
Fall – fast windstill. Die Äolsharfen in den Obstbäumen
sangen ganz leise, übertönt von den Nachtigallen. Über
Garten und Wiese schwebte leise hingeweht ein Bouquet süß-schmeichelnden Dufts, weiße Blumen leuchteten im
Dunkel; es war kein herber Frühling mehr; der Sommer kam, und
Versprechen und Lockung wollten Erfüllung finden.
Das
ist ja tödlich, das halte ich nicht aus – dachte ich und
setzte mich mehr seelich als körperlich erschöpft auf eine
bemooste Steinbank – die ältesten, abgegriffendsten
Redensarten werden greifbare Wirklichkeit. Auch wenn ich es nicht
will, ich fühle wie mir dies Nachtigallengeschluchze das Herz
zerreißt, wie ich mich verströme, die Natur zwingt uns den
größten, den unwiderstehlichsten Kitsch auf, man kann ihr
nicht entrinnen, man gehört ja dazu, ist auch ein Geschöpf
wie alles umher.
Kann Vernuft uns nicht retten?
Ist
die Liebe, diese meine Liebe ein Unrecht?
Ein
Satz hatte mich in „Vanity Fair“ getroffen und kam mir jetzt in den Sinn: „The crime, she had
long ago been guilty, of loving wrongly, violently, against reason.“ Das war es – gegen alle Vernunft. Aber Freundschaft musste doch
möglich sein, dann war ja alles gut.
Es
war jetzt ganz dunkel, aber die engen Kleinstadtstraßen waren
doch belebt. Leute gingen mit Fernrohren, um den Kometen zu sehen. Ich stieg mit zu einer kleinen Anhöhe, und neben den
kalt glitzernden Sternen konnte ich mitbloßem Auge einen
schmalen Streifen wie einen Nebel sehen, einen schmalen, tröstlichen
Lichtstreifen in so viel weglosem Dunkel.
In
Ludwigsort war Aufbruchstimmung. Lissa hatte so eine
merkwürdige Unruhe, die vielleicht schon mit dem Herzleiden
zusammen hing, an dem sie im Alter von 38 Jahren starb. Jetzt führte
sie allerdings Gründe für ihren Wunsch fortzuziehen an, die
auch uns anderen klar waren. Ludwigsort war ihr unheimlich geworden,
besonders wenn sie oft so allein dort war. Ein junges Mädchen
hatte sich in einem Waldsee das Leben genommen; die Königsberger
Frau Kraschutzki war in den Wald gegangen und nicht zurück
gekommen. Sie war etwas seltsam geworden und konnte sich manchmal
nicht ganz zurechfinden. Aber wenn sie sich verirrt hatte, wenn
irgend ein Unglück passiert war; es musste doch eine Spur zu
finden sein. Nichts, trotz fieberhaftem Suchen der Polizei. Georg hatte schon eine schöne Wohnung in Königsberg in Aussicht
genommen. Nach meinem Dafürhalten zu groß, aber Lissas Wünsche schäumten in allem über die Ufer. Eine Köchin
wurde gesucht, ein Kindermädchen für das Baby, eine junge
Französin sollte Mutter und Kind gleichermaßen die fremde
Sprache spielend lehren – wo führte das hin!
Auf
mich wartete ein Brief von J. Ich öffnete ihn seufzend.
Wochen – monatelang hatte er nichts von sich hören lassen,
als ich mich manchmal so hilflos fühlte, und nun, als mein Leben
in richtige Bahnen kam, schrieb er so oft. Immer der selbe Egoismus.
Seine Stimmungen waren maßgebend. Er schrieb, dass er zu einer
Schulrätesitzung nach Königsberg käme und nachmittags
um 4 Uhr nach dem Kolleg am Kant
auf mich warten wollte.
Ich
freute mich dann doch, als ich hinging. Im Säulengang vor der
Uni sah ich Sabine mit dem jungen W. Sie trug den Kopf
etwas in den Nacken zurückgelegt, einen Schawl um die Schultern, das war damals nicht Mode, aber es stand ihr. An
der Stelle in „Henriette Jacoby“,
wenn Jettchens Schawl so
verführerisch flattert, dass Kößling
ihr folgen muss, musste ich immer an Sabine, an ihre
Kopfhaltung und ihren Schawl denken. Was machte sie nur so reizvoll!
Es gab doch hübschere Mädchen in unserem Kreis. Das Wort
„sex appeal“ war noch nicht geprägt.
Ich
hatte J. einige Monate nicht gesehen und hatte ganz vergessen,
wie groß und stattlich er war, als er aufstand und mit seinem
scheinbar langsamen und doch so schnell fördernden Schritt auf
mich zukam.
„Was
nun zuerst, Rudolf?“
„Mittag essen; ich lade
Dich zu Rehbraten mit Preißelbeeren ein.“
„Und
für Dich Gurkensalat.“
„Und dann Kaffee und
Kuchen Du siehst nach Deiner Erholungsreise reichlich schmal und
blass aus. Wieviel wiegst Du eigentlich?“
„Das
interessiert mich wirklich nicht.“
An der nächsten
Waage stellten wir 107 Pfund fest.
„Zu wenig.“
„Du
sprichst genaus wie die Hexe in 'Hänsel und Gretel'. Mager, noch
ein Scheffelchen
Haber.“
„Schön,
dann lass uns gleich an den Haber gehen. Theaterrestaurant oder Hotel
de Berlin?“
„Und nachher zum Landgraben; da muss jetzt
der Weißdorn blühen. Buleke
hat ihn besungen, oder nein, es waren die Schlehen“; ich wollte
anfangen: Blühender Schlee, blühender Schlee – aber
dann fiel mir ein, dass es weiter hieß: mahnt mich an
bräutliches Linnen, und ich schwieg lieber.
„Ich
glaube, Liesel, Du richtest Deine Spaziergänge nach den
jeweils blühenden Pflanzen und den jeweils blühenden
Gedichten ein. Und was blüht denn jetzt, was hast Du
gelesen?“
„Zuletzt Klaus
Hinrich Baer, aber das reicht nicht heran an Jörn Uhl.
Jörn Uhl war mir direkt eine Offenbarung.“
Mein Freund
Kalina hat mir den Jörn Uhl geschenkt.“
„Der
stud.vet.,
mit dem Du über die Nehrung gingst?“
„Woher weißt
Du ...?“
„Ach, nur so.“
„Er hat mir als
Widmung hineingeschrieben: s/l Jankow als Spiegel.“
„Du bist tatsächlich als Typ
modern; aber Jörn Uhl ist Niedersachse, und Du hast von Deiner
preußisch-litauischen Grenze her allerlei Dunkles und mir
Unverständliches an Dir. Ich fand das interessant, als ich Dich
kennenlernte.“
Ich
sah sein sparsames Lächeln so gern.
„Ich habe in meiner
recht langen Ahnenreihe nur eine Salzburgerin – die Lacknerin –
sonst nur Litauer und einen legendären Russen.“
„Und
ich habe außer einem Holländer, der aus religiösen
Gründen fliehen musste,
ausschließlich deutsche Ahnen aus Nord und Süd. Da können
wir ja nicht zusammen passen.“
„Ich denke doch.“
Gegen
Abend ruderte er mich; ich weiß nicht mehr, wo es war. Ich
hatte jetzt immer, wenn ich mit ihm zusammen war, ein ruhiges,
schönes Gefühl des Beschütztseins. Ich dachte nicht
weiter nach, ich hielt eine Hand ins Wasser, ließ mich treiben
und schwieg lange.
„Wir
werden heiraten,“ sagte er plötzlich.
Ich erwachte. „Ach, Rudolf, vor 5 Jahren da wäre ich glückselig
und unbeschwert in dieses Abenteuer geglitten, aber jetzt weiß
ich mehr vom Beamtenbetrieb mit den kümmerlichen Zimmern zum
Schlafen und den Gesellschaftsräumen vorne heraus, und ich kenne
Deine Angst vor der Armut, und ich kenne die Wünsche Deiner
Eltern.“
„Woher
das?“
„Tilsit ist eine Kleinstadt; eine Bauerntochter
mit 100 000 - „
„Nur 80 000.“
„Also
lassen wir das und verderben uns nicht die wenigen schönen
Tage.“
„Ich werde mir mein Erbteil auszahlen lassen;
dann haben wir genug zur Einrichtung, denn da hast Du recht; ein
wenig repräsentieren müssen wir schon. Und Deine
Verwandten? Bocks sind doch in Tilsit gut
eingerichtet.“
„Marie bekam natürlich, was
von dem elterlichen Haushalt da war; sie soll mir ja, wenn ich
heirate, ein Zimmer abgeben, und schöne Geschenke würde ich
wohl auch bekommen. Doch genug, dieses Zusammenkramen und -rechnen
liegt mir nicht. Lass uns befreundet sein!“
„Und das
genügt Dir, um glücklich zu sein?“
„Ja“.
„Mir
nicht!“ Damit fasste er die Ruder mit plötzlichem Griff so
scharf, dass seine Knöchel ganz weiß hervortraten; „ich
habe keine Lust, noch länger allein zu sein!“
Abends
brachte er mich an den Zug nach Ludwigsort, und wir verabredeten für
den nächsten Tag einen Ausflug an die See. Zu meiner Freude
stieg er mit ein.
„Wir steigen auf der vorletzten Station in
Poischken aus und gehen zu Fuß durch den Wald nach Hause.“
„Ist
es Dir nicht unheimlich in der Nacht?“
Er
lachte. Ein schmaler Pfad führte die Böschung hinunter in
den Wald, der sich in der schnell einfallenden Dämmerung wie ein
dunkles Tor auftat.
Ich ging so leicht und frei und hörte
seine Stimme hinter mir ganz fremd wie ein wenig belegt: „Wie
Dein weißes Kleid leuchtet,“ sagte er.
(Einige der Fußnoten wurden zitiert aus der deutschsprachigen Wikipedia
http://wikipedia.de/ )